Von Gerdien Jonker
Veröffentlicht 2019
DOI 10.25360/01–2022-00021
Foto: © Gerdien Jonker
Inhaltsverzeichnis
Islamische Mission versus Britische „Zivilisierungsmission“ | Die Verwaltung der Berliner Missionsgemeinde | Die Sicherung des Archivgutes | Literaturverzeichnis | Korrespondierende Archive | Zum Weiterlesen
1924 eröffnete die islamische Reform und Missionsbewegung Ahmadiyya, die ihren Sitz in Lahore hatte, eine Moschee in Berlin. Die Ahmadiyya war um 1900 entstanden aus dem Bestreben heraus, den Islam gegen die Angriffe britischer Missionare zu verteidigen. Der Gründer, Mirza Ghulam Ahmad (1838–1908) präsentierte sich als Erneuerer des Jahrhunderts (Mujaddid). Wie der historische Jesus empfange auch er göttliche Eingebungen (Wahy), sei der Messiah, der am Ende der Zeit wiederkehre, um die Muslime aus ihrer bedrängten Lage zu retten. Er sei ein Prophet im Schatten des Propheten (Zilli Nabi), der der muslimischen Welt ihr Selbstvertrauen wiedergeben und die islamische Tradition für die neue Zeit fit machen wolle. Für orthodoxe Muslime war das inakzeptabel. Dabei geht jedoch oft verloren, dass Mirza Ghulam Ahmad seine Argumente vor dem Horizont einer beschleunigten Globalisierung entwickelte. Diese brachte nicht nur die mission civilisatrice der europäischen Großmächte vor die eigene Haustür, sondern auch neue Möglichkeiten der Kommunikation und damit Zugang zu einem Wissen, das vieles, was bis dahin als unverrückbar gegolten hatte, hinterfragte. Mirza Ghulam Ahmad war zwar der englischen Sprache nicht mächtig, er verstand es trotzdem, die Schwächen des Christentums anzuprangern und ihre Mythen zu hinterfragen. Man könnte sagen: Er gab sich als Konkurrent auf Weltebene (Jonker 2016).
Mit dem Bau einer Moschee in Berlin ermöglichte die Ahmadiyya in der Zwischenkriegszeit einen intensiven Austausch zwischen Muslimen aus Britisch-Indien und deutschen Lebensreformern. Die Zeit war kurz. 1923 kam der erste Missionar am Bahnhof-Zoo an. 1939 wurde der letzte des Landes verwiesen. Erst 1947 nahm das Mutterhaus in Lahore den Betrieb wieder auf.
Die ersten drei Ahmadiyya Missionare, Maulvi Sadruddin (1923–1926), Abdul Fazlul Khan Durrani (1926–1928) und Sheikh M. Abdullah (1929–1939) hatten rege Kontakte zum religiösen Experimentierfeld der deutschen Lebensreform, vor allem zur Theosophie, dem deutschen Buddhismus und der jüdischen Reformgemeinde unterhalten. Die Konvertitengemeinde, die sich unter ihrer Ägide formierte, rekrutierte sich aus diesen Kreisen.
Zwischen 1939 und 1947 hielt Alexandrina Amina Mosler-Beine, die Frau eines Berliner Zahnarztes, die 1937 zum Islam konvertiert war, die Berliner Moschee offen. Amina Mosler verstand sich als „Preußin und Muslimin“ und nach dieser Maxime handelte sie. In den ersten Kriegsjahren fand sie immer wieder Wege, um mit dem Mutterhaus in Lahore Kontakt zu halten. 1942, als Deutschland endgültig von der Außenwelt abgeschnitten war, wandte sie sich an Muhammed Amin Al-Husseini, den Großmufti von Jerusalem, der auf Einladung des Nazi-Regimes in Berlin weilte, und übergab ihm die Schlüssel der Moschee. Fortan war es Al-Husseini, der die Freitagspredigt hielt. Er empfing große Gruppen muslimischer Kriegsgefangener, die in Zossen in muslimische SS-Regimenter eingegliedert worden waren. Nachdem Al-Husseini Ende 1944 nach Süddeutschland geflüchtet war, führte Amina Mosler die Moschee durch die Zeit der Bombardierung Berlins, unter anderem indem sie die rote sowjetische Flagge auf dem Moscheedach hisste. 1947, als Abdullah wieder aus Lahore anreiste, sorgte sie dafür, dass die Moschee Gründungsmitglied in der neu entstandenen „Arbeitsgemeinschaft Kirchen und Religionsgemeinschaften in Groß-Berlin“ wurde. Mit diesem Schritt wurde die Gemeinde endgültig im öffentlichen religiösen Leben der Stadt verankert. Die Moschee arbeitete fortan eng mit Christen, Juden und Buddhisten zusammen und hatte Zugang zum Rundfunk und zu den Volkshochschulen.
Bis 1959 behielt Amina Mosler die administrative Leitung über die Moschee. In ihrer 20-jährigen Ägide übernahm zwar eine Reihe von Imamen (Al-Husseini, SM Abdullah, Herbert Hobohm, Abdul Aziz Khan) die Verantwortung für die Freitagspredigten und die jährlichen Id-Feiern. Aber keiner von ihnen blieb länger als zwei Jahre. Erst mit der Ankunft des jungen Missionars Yahya Butt im selben Jahr änderte sich dieses Muster grundlegend. Butt übernahm die tägliche Leitung, schrieb sich an der Freien Universität als Student ein und zog in der Folgezeit ein überwiegend studentisches Publikum an. Zehn Jahre später war er ein stadtbekannter muslimischer „Studentenpastor“, der regelmäßig im Radio zu hören war und nebenbei Lehraufträge an der FU durchführte.
Diese und andere Begegnungen hinterließen vielfältige Spuren in der Verwaltung des Moscheealltags, die sich im sogenannten Moscheearchiv verfolgen lassen. Im Laufe der Zeit verstauten die Verwalter ältere Unterlagen irgendwo im Missionshaus der Berliner Ahmadiyya-Moschee und das Archiv als Ganzes geriet aus dem Blick. Als „verloren gegangen“ aufgegeben, wurde es 2017 wiedergefunden.
Im Folgenden soll darüber berichtet werden, welche Materialien im Moscheearchiv aufbewahrt wurden. Dafür skizziert der Beitrag zuerst den historischen Hintergrund: die Bemühungen um religiöse Revitalisierung in Britisch-Indien und die translokalen Aktivitäten der Ahmadiyya, einschließlich ihrer Mission in Berlin. Anschließend wird das Archivgut beschrieben und anhand dessen festgestellt, mit welchen Tätigkeiten die Imame in Berlin die von ihnen vorgeschlagene religiöse Revitalisierung einzulösen versuchten. Das Moscheearchiv könnte dazu beitragen, besser zu verstehen, was deutsche Lebensreformer (in der Nachkriegszeit Hippies und flower power Kinder) und indische Reformer einander zu sagen hatten.
Islamische Mission versus Britische „Zivilisierungsmission“
Seit den 1830er-Jahren versuchten christliche Missionare in Britisch-Indien im Dienste der westlichen „Zivilisierungsmission“ lokale kulturelle Traditionen mit aggressiven Mitteln europäischen Normen anzupassen (Osterhammel/Petersson 2003:56). Ihre Vorgehensweise war wenig erfolgreich, sondern rief vielmehr Widerstand unter Hindus, Sikhs, Buddhisten und Muslimen gleichermaßen hervor. Ob nun in Lahore, Kalkutta oder Colombo, überall im Kolonialreich übten Religionsgemeinschaften lautstark Kritik an den Briten und ihrem Lebensstil. Man warf den Kolonialherren „Korruption“ und „Sittenlosigkeit“ vor. Gleichzeitig entstanden zahlreiche religiöse Initiativen, die bestrebt waren, eigene Tradition zu revitalisieren und diese so dem britischen Zugriff zu entziehen. Organisationsformen der christlichen Herausforderer dienten den Reformern der indischen Religionsgemeinschaften dabei durchaus als Modell (Tyrell 2004:29–30).
Während im Süden des Subkontinents die Vorschläge der Theosophical Society Buddhisten und Hindus gleichermaßen beflügelten (Zander 2007:25–32, Bayly 2004:328, Linse 2002: 406), bot sich im Norden Mirza Ghulam Ahmad, Gründer der Ahmadiyya Bewegung, den indischen Muslimen als Inkarnation Buddhas und Jesus’ an. Dabei drehte er die Stoßrichtung der christlichen Mission um (Jonker 2016: 12–63). Um 1900 brachten Schüler seine Botschaft nach Afghanistan, Ostafrika und Niederländisch Indien. 1923 wurde mit dem Bau der Moschee in Berlin begonnen. Nach dem Vorbild christlicher Missionen und basierend auf den Erfahrungen der Ahmadiyya in anderen Regionen der Welt, versuchten Ahmadi Missionare nun mit der deutschen Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Mit Blick auf die entstehende globale Welt boten sie Vorträge über aktuelle Themen an, darunter die Religion der Zukunft, der Mensch der Zukunft, die Seele als Medium zwischen „Ost und West“, sowie die Neuordnung der Geschlechter (Jonker 2018: 94–123).
Die Verwaltung der Berliner Missionsgemeinde
Im Archivgut der Berliner Moschee lassen sich die Handschriften von vier verschiedenen Verwaltern ausmachen. Es sind dies Imam S.M. Abdullah (1928 – 1940), die Konvertitin Alexandrina Amina Mosler (1940 – 1960), Imam Yahya Butt (1959 – 1989) und Imam Chaudry (1989 – 2004). Muhammad Aman Hobohm, der von 1949 bis 1954 als Imam bestellt war, überließ die Verwaltung Frau Mosler. Von ihm wurde lediglich eine Kiste mit Renovierungsunterlagen und Entwürfen für eine neue Zeitschrift überliefert. Spuren der beiden ersten Missionare, Sadr Uddin (1923 – 1926) und Khan Durrani (1926 – 1928), lassen sich hingegen nicht mehr finden. Die Sprache der Verwaltung war deutsch. Nur die Korrespondenz mit dem Mutterhaus in Lahore wurde in Urdu geführt.
Für den Erfolg der Mission der Ahmadiyya in Europa wurde eine eigene Übersetzung des Korans ins Deutsche als zentral erachtet. Gleich nach seiner Ankunft fing Sadr Uddin an, den arabischen Grundtext ins Englische zu übertragen, während Hugo Marcus, ein Berliner, der 1923 bereits zum Islam konvertierte, den englischen Text ins Deutsche übersetzte. Ihre Übersetzung ging erst 1939, kurz vor Kriegsanfang, in den Druck. In der Moscheebibliothek stehen noch Exemplare dieser Übersetzung, aber nach ihren Notizen und Typoskripten sucht man vergeblich. Dafür fand sich ein großformatiges gebundenes Heft, das im Juli 1939 eingerichtet wurde und die Käufer von Exemplaren des Korans in deutscher Sprache mit Datum und Adresse vermerkte. Die Eintragungen zeigen, dass die Verkäufe bis tief in den Krieg hinein fortgesetzt wurden.
Sadr Uddins Nachfolger Sheikh Muhamed Abdullah stellte die Verwaltung auf eine methodische Grundlage. So installierte er unter anderem Ordner mit Vorlagen für die Moslemische Revue, die hauseigene Missionszeitschrift, welche wiederum aus den wöchentlich stattfindenden und ebenfalls gesammelten Vorträgen schöpfte. Von diesen Dokumenten überlebten den Krieg nur einige wenige Bruchstücke auf dem Boden einer Kiste, in der über die Jahre hinweg alte Haushaltgeräte gelagert wurden. So ging zwar für die nachfolgenden Imame das Wissen um die Aktivitäten der Vorgänger verloren. Weggeworfen wurde aber nichts: auch diese Kiste fand sich schließlich im Keller wieder.
Für den Erfolg der Lahore-Ahmadiyya Bewegung in Indien waren Nachrichten über den Fortgang der Berliner Mission von zentraler Bedeutung. Aus diesem Grund erstatteten die Missionare in Berlin dem „Mutterhaus“ in Lahore regelmäßig Bericht, übersetzten zentrale Beiträge der Berliner Debatte in Urdu und Englisch, und stellten ihrem indischen Publikum die wichtigsten Konvertiten vor. Ordner wurden angelegt und füllten sich mit Durchschlägen von handgeschriebenen Briefen in Urdu; mit Typoskripten von Übersetzungen für die in Lahore erscheinenden Zeitschriften The Light (in Englisch) und Paigham-e-Sulh (in Urdu), sowie mit Fotos und Kurzbiographien von in Deutschland gewonnenen „neuen Muslimen“.
Zum Auftrag der Missionare gehörte es, neben der regelmäßigen Predigt, auch den ständigen Kontakt zu Religionsgemeinschaften zu pflegen, die sich offen für religious progress zeigten. Einige Dokumente, die irgendwann in eine Kiste geschüttet wurden um Platz für Neues zu schaffen, weisen in Richtung Jüdische Reformgemeinde und Buddhistisches Haus in Berlin.
Der Kern der Arbeit wurde indes in dicken Leitzordnern abgeheftet, die mit „Neue Muslime“ beschriftet wurden und noch immer im Büro des heutigen Imams stehen. Auf Nachfrage gab er an, mit Ordnern zu arbeiten, die 1959 begonnen wurden. Diese Ordner sind ein Beispiel eines lebendigen Archivs. Sie zeugen ebenfalls von dem großen Interesse, auf das die Mission in der deutschen Bevölkerung stieß. Demgegenüber geben Austrittbescheinigungen aus Kirchen- und Synagogenregistern, die sich wiederum vereinzelt im Keller wiederfanden, einen Eindruck von den bürokratischen Prozessen, mit denen sich Christen wie Juden aus ihren alten religiösen Bindungen lösten.
Neben dem Übertritt zum Islam stand in dieser Moschee auch die interkulturelle Heirat hoch im Kurs. Davon zeugen wiederum andere Heiratsordner im Büro des Imams. Erste Einblicke in diese Praxis verschafft ein Konvolut, das 1959 begonnen und 1973 abgeschlossen wurde. In diesem Zeitraum traten 194 Paare mit der Bitte um Segnung an den Imam heran. 71 von ihnen hatten die Dokumente ihrer Standesamtstrauung bereits dabei. Andere unterzeichneten nur eine Absichtserklärung und wurden damit beauftragt, zunächst eine bürgerliche Heirat abzuschließen. Die Männer dieser Paare stammten überwiegend aus islamischen Ländern, während die Frauen überwiegend aus Deutschland kamen. In 43 Fällen lag für die Frau ein Dokument bei, das ihren Übertritt zum Islam bezeugte. In nur einigen wenigen Dokumenten findet sich ein Vermerk über eine spätere Auflösung der Heirat. Die Heiratsmitgift betrug in der Regel von 5000 DM oder mehr, ein für die Zeit sehr großen Betrag. In den Fotoalben, welche jeder Missionar anlegte, lässt sich gut nachverfolgen, dass die Ahmadiyya-Gemeinde stets wohlsituierten Kreisen entstammte.
In Berlin sahen sich die Missionare auch mit den deutschen Vereinsstrukturen und dazu gehörigen Berichtspflichten konfrontiert. Nach langer Vorbereitung wurde 1930 die Deutsch-Moslemische Gesellschaft (DMG) gegründet und als Verein eingetragen. Laut Satzung sollte sie die Freundschaft zwischen Muslimen und Deutschen befördern. In der Praxis gestaltete die Gesellschaft die Arbeit in der Moschee sowohl unter Gesichtspunkten der muslimischen Moderne als auch der deutschen Lebensreform. Dieses Zusammengehen zweier Bewegungen schlug sich ebenfalls im Archiv nieder. Neue Ordner wurden angelegt für Pläne und Berichte, die Vereinssatzung und die Mitgliederlisten. Die persönlichen Fotosammlungen des Imam Abdullah geben auch Auskunft über das gesellige Zusammenleben von Indern und Deutschen, die sich neben dem intellektuellen Austausch, gerne auch mit Tennis, Rudern und Wandern beschäftigten.
Mitte der 1930er Jahre verklagten arabische Muslime in Berlin, denen diese gemeinsamen Aktivitäten suspekt vorkamen und die sie als „unislamisch“ verteufelten, die Missionare und versuchten, die Moschee an sich zu reißen. Dabei bemühten sie sich auch, die Nazis auf ihre Seite zu ziehen, was aber nicht gelang. Auch die Gerichtsprozesse, die sich daraus ergaben, wurden archiviert.
Imam Abdullah war es auch, der eine eigene Moscheebibliothek einrichtete. Während des Krieges wurden die Bücher zum Schutz vor Bombenangriffen in einem Seitenzimmer im Keller untergebracht. Daraus sind sie später wohl nie mehr hervorgeholt worden. So entstand ein in sich geschlossenes, zeitlich begrenztes Konvolut. Diese Bibliothek muss ebenfalls zum Moscheearchiv gerechnet werden, eben weil sie präzise Aussagen über Leseinteressen in der Zwischenkriegszeit erlaubt und ein Bild davon vermitteln kann, was der Imam „sah“.
Wie in jeder Moscheebibliothek üblich, nutzte Abdullah die Abteilung VIII (römisch 8) um Information über das unmittelbare Umfeld der Moschee einzuholen. Konkret trug er hier aktuelle Publikationen über Theosophie und Lebensreform zusammen. Neben der Zeitschrift Theosophisches Leben und den Schriften Krishnamurtis findet man hier Bücher über Yoga, den ‚universalen Sufismus’, Frauenbildung, Schulreform, Vegetarismus, oder auch die Methoden natürlicher Krebsbehandlung des schwedischen Lebensreformers Ari Waerland. Mitte der 1930er kamen „Berichte junger Menschen aus Palästina“ und das „Palästina ABC“ hinzu, was darauf hinweist, dass der Imam bzw. die Moschee jüdische Besucher über Auswanderungsmöglichkeiten nach Palästina informierte. Die letzten Bücher, die Abdullah erwarb, waren der Nazi-Perspektive auf den Islam gewidmet (u.a. Otto Krantz, Das Schwert des Islam, 1939). Als er schließlich im Oktober 1939 abreiste, wurde seine Sammlung geschlossen.
1946 startete Frau Mosler, die über den Krieg hinweg die Moschee offen gehalten und ihre Schätze so gut wie möglich geschützt hatte, Aufrufe im RIAS, um die in Deutschland verbliebenen Muslime ausfindig zu machen. Auch ihre mit Bleistift geschriebene Adressenliste (lediglich vier aus einem Schulheft gerissene Seiten) fand sich unter den Archivdokumenten. Sie ist ein wichtiges Zeugnis, zeigt sie doch, wie viele und welche Muslime während des Krieges in Deutschland blieben. Die Tatsache, dass ihre Adressen in den besten Wohngegenden Berlins (Wilmersdorf, Friedenau, Zehlendorf) lagen, weist darauf hin, dass es Ihnen dabei gut gegangen war.
Achtzig Jahre lang stapelten sich so die Ordner und Kisten, bis die Moschee 2004 geschlossen wurde. Da lagerte bereits ein großer Teil der Administrationsdokumente im Keller. Yahya Butt hatte schon bei Dienstantritt 1959 die Vorkriegsordner, die den Krieg überlebt hatten, in Kartons geleert, diese im Keller gestapelt und nach und nach mit Haushaltsmüll aufgefüllt. Der letzte Verwalter Imam Chaudry stellte, als er fortging, die restlichen Ordner in Wandschränke und verstellte diese mit Bücherregalen. Was überall sichtbar stehen blieb und die Zimmer geradezu verstopfte, waren Kartons mit religiösen Traktaten, einst das wichtigste Mittel zur Verbreitung der Missionsbotschaft der Ahmadiyya. Mit dem Eintritt ins Internetzeitalter gab es für sie keinen Bedarf mehr.
Die Sicherung des Archivgutes
Mit Blick auf den nahenden 100. Geburtstag werden die Moschee und das Verwaltungshaus gegenwärtig renoviert. Dabei kam 2017 das gesamte Moscheearchiv wieder zum Vorschein. Teile des Archivgutes waren zwar in der Vergangenheit mit Wasser in Berührung gekommen und hatten dementsprechend Schaden genommen. Der größte Teil aber, der in Wandschränken weggeschlossen wurde, befand sich in einem bemerkenswert guten Zustand. Beim sukzessiven Auffinden ließ sich feststellen, dass es sich um ca. 14 Meter archivierter Dokumente – darunter ca. 100 Ordner und etliche Papierstapel – handelt. Nach erster Sichtung des Bestandes ist von ca. 70.000 Archivalien auszugehen.
Den wichtigsten Fundort bildeten die Einbauschränke im Haus neben der Moschee. Im Schlafzimmerschrank stießen wir auf einen erheblichen Teil des Vorkriegsarchivs. Ein Doppelschrank im Büro offenbarte das Nachkriegsarchiv von 1959 bis 2004. Als schließlich der Keller entrümpelt wurde, kam der größte Fund zum Vorschein. Hier befanden sich das Kriegsarchiv, die Korrespondenz mit dem Mutterhaus in Lahore, Dokumente über Kirchen- und Synagogen-Ausstritte, Kisten voller Missionstraktate aus 100 Jahren, Bauordner, welche die zahlreichen Teilrenovierungen dokumentieren (die Moscheekuppel und die Minarette wurden bei Kriegsende zerstört), sowie Ordner mit Vereinsunterlagen und Korrespondenzen mit dem Registeramt.
Nun ist Archivgut, in welchen Zustand auch immer, noch kein Archiv. Wie die Administration von Fußballvereinen, Sprachschulen, Orchestern oder Heimatvereinen, so ist auch die Registratur einer religiösen Vereinigung Privatbesitz. Das bedeutet, dass sie nicht öffentlich einsehbar ist, auch wenn es sich um Material handelt, das bald einhundert Jahre alt ist und lange vernachlässigt herumgelegen hat. Der erste Schritt zur Zugänglichmachung war daher die Kontaktaufnahme mit dem Landesarchiv Berlin. Der zweite Schritt erfolgte im September 2018, als der Vorstand der Ahmadiyya Organisation aus Lahore und England anreiste, um mit dem Landesarchiv Berlin einen Vertrag über die Sicherung des Archivgutes abzuschließen. Als dritten Schritt reichte das Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa einen Förderantrag bei der DFG ein um eine Archiv-Systematik zu entwickeln und den Fund einer ersten Untersuchung zu unterziehen. Die Bewilligung steht zwar noch aus, Ziel ist es dennoch, das Moscheearchiv der Lahore-Ahmadiyya in Berlin im Jahr 2021 im Landesarchiv Berlin aufzustellen und von da an öffentlich zugänglich zu machen. Bis dahin müssen Interessenten sich noch gedulden. Forscher, die sich für Globalisierungsgeschichte, islamische Reform, deutsch-indische Beziehungsgeschichte oder die Geschichte der Lebensreform interessieren, erwartet dann jedoch ein großer Schatz.
Literaturverzeichnis
Bayly, Christopher A., The Birth of the Modern World 1780–1914. Oxford: Blackwell, 2004.
Jonker, Gerdien, The Ahmadiyya Quest for Religious Progress. Missionizing Europe 1900 – 1965. Leiden: EJ Brill, 2016.
Jonker, Gerdien, ‚Etwas hoffen muß das Herz.’ Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen. Göttingen: Wallstein, 2018.
Linse, Ulrich, „Theosophie III. Theosophische Gesellschaft (ab 1875)“. In: Gerhard Krause, Gerhard Müller (Hg.) Theologische Realenzyklopädie, Bd. 33. Berlin: De Gruyter, 2002.
Osterhammel, Jürgen, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen. Prozesse. Epochen. München: Beck, 2003.
Steinke, Ronen. Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin. Berlin: Berlin-Verlag, 2017.
Tyrell, Hartmann, „Weltgesellschaft, Weltmission und religiöse Organisationen“. In: Artur Bogner, Bernd Holtwick, Hartmann Tyrell (Hg.) Weltmission und religiöse Organisationen. Würzburg: Ergon, 2004.
Zander, Helmut, Anthroposophie in Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007.
Korrespondierende Archive
Das Mutterhaus der Lahore-Ahmadiyya Organisation in Lahore bemüht sich im Augenblick die Dokumentenlage auf ihrer Seite zu sichten und zu digitalisieren.
Die Verwaltung der Ahmadiyya-Moschee in Woking (GB), die von 1913 bis 1965 im Besitz der Lahore-Ahmadiyya war, gilt als verschollen.
Zum Weiterlesen
aaiil.org – offizielle Website der Lahore-Ahmadiyya Bewegung zur Verbreitung islamischen Wissens
Agai, Bekim, Umar Ryad and Mehdi Sajid (eds.), Muslims in Interwar Europe – A Transcultural Historical Perspective. Leiden: EJ Brill, 2015. Zum Herunterladen: https://brill.com/downloadpdf/title/26701
Gerdien Jonker, Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE), Friedrich-Alexander Universität Erlangen
MIDA Archival Reflexicon
Editors: Anandita Bajpai, Heike Liebau
Layout: Monja Hofmann, Nico Putz
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ISSN 2628–5029