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Inhalts­ver­zeich­nis
Isla­mi­sche Mis­si­on ver­sus Bri­ti­sche „Zivi­li­sie­rungs­mis­si­on“  |  Die Ver­wal­tung der Ber­li­ner Mis­si­ons­ge­mein­de | Die Siche­rung des Archiv­gu­tes | Lite­ra­tur­ver­zeich­nis  | Kor­re­spon­die­ren­de Archi­ve  |  Zum Wei­ter­le­sen

1924 eröff­ne­te die isla­mi­sche Reform und Mis­si­ons­be­we­gung Ahma­di­y­ya, die ihren Sitz in Laho­re hat­te, eine Moschee in Ber­lin. Die Ahma­di­y­ya war um 1900 ent­stan­den aus dem Bestre­ben her­aus, den Islam gegen die Angrif­fe bri­ti­scher Mis­sio­na­re zu ver­tei­di­gen. Der Grün­der, Mir­za Ghul­am Ahmad (1838–1908) prä­sen­tier­te sich als Erneue­rer des Jahr­hun­derts (Mujad­did). Wie der his­to­ri­sche Jesus emp­fan­ge auch er gött­li­che Ein­ge­bun­gen (Wahy), sei der Mes­siah, der am Ende der Zeit wie­der­keh­re, um die Mus­li­me aus ihrer bedräng­ten Lage zu ret­ten. Er sei ein Pro­phet im Schat­ten des Pro­phe­ten (Zil­li Nabi), der der mus­li­mi­schen Welt ihr Selbst­ver­trau­en wie­der­ge­ben und die isla­mi­sche Tra­di­ti­on für die neue Zeit fit machen wol­le. Für ortho­do­xe Mus­li­me war das inak­zep­ta­bel. Dabei geht jedoch oft ver­lo­ren, dass Mir­za Ghul­am Ahmad sei­ne Argu­men­te vor dem Hori­zont einer beschleu­nig­ten Glo­ba­li­sie­rung ent­wi­ckel­te. Die­se brach­te nicht nur die mis­si­on civi­li­satri­ce der euro­päi­schen Groß­mäch­te vor die eige­ne Haus­tür, son­dern auch neue Mög­lich­kei­ten der Kom­mu­ni­ka­ti­on und damit Zugang zu einem Wis­sen, das vie­les, was bis dahin als unver­rück­bar gegol­ten hat­te, hin­ter­frag­te. Mir­za Ghul­am Ahmad war zwar der eng­li­schen Spra­che nicht mäch­tig, er ver­stand es trotz­dem, die Schwä­chen des Chris­ten­tums anzu­pran­gern und ihre Mythen zu hin­ter­fra­gen. Man könn­te sagen: Er gab sich als Kon­kur­rent auf Welt­ebe­ne (Jon­ker 2016).

Mit dem Bau einer Moschee in Ber­lin ermög­lich­te die Ahma­di­y­ya in der Zwi­schen­kriegs­zeit einen inten­si­ven Aus­tausch zwi­schen Mus­li­men aus Bri­tisch-Indi­en und deut­schen Lebens­re­for­mern. Die Zeit war kurz. 1923 kam der ers­te Mis­sio­nar am Bahn­hof-Zoo an. 1939 wur­de der letz­te des Lan­des ver­wie­sen. Erst 1947 nahm das Mut­ter­haus in Laho­re den Betrieb wie­der auf.

Die ers­ten drei Ahma­di­y­ya Mis­sio­na­re, Maul­vi Sad­rud­din (1923–1926), Abdul Faz­lul Khan Dur­ra­ni (1926–1928) und Sheikh M. Abdul­lah (1929–1939) hat­ten rege Kon­tak­te zum reli­giö­sen Expe­ri­men­tier­feld der deut­schen Lebens­re­form, vor allem zur Theo­so­phie, dem deut­schen Bud­dhis­mus und der jüdi­schen Reform­ge­mein­de unter­hal­ten. Die Kon­ver­ti­ten­ge­mein­de, die sich unter ihrer Ägi­de for­mier­te, rekru­tier­te sich aus die­sen Kreisen.

Zwi­schen 1939 und 1947 hielt Alex­an­dri­na Ami­na Mos­ler-Bei­ne, die Frau eines Ber­li­ner Zahn­arz­tes, die 1937 zum Islam kon­ver­tiert war, die Ber­li­ner Moschee offen. Ami­na Mos­ler ver­stand sich als „Preuß­in und Mus­li­min“ und nach die­ser Maxi­me han­del­te sie. In den ers­ten Kriegs­jah­ren fand sie immer wie­der Wege, um mit dem Mut­ter­haus in Laho­re Kon­takt zu hal­ten. 1942, als Deutsch­land end­gül­tig von der Außen­welt abge­schnit­ten war, wand­te sie sich an Muham­med Amin Al-Huss­ei­ni, den Groß­muf­ti von Jeru­sa­lem, der auf Ein­la­dung des Nazi-Regimes in Ber­lin weil­te, und über­gab ihm die Schlüs­sel der Moschee. Fort­an war es Al-Huss­ei­ni, der die Frei­tags­pre­digt hielt. Er emp­fing gro­ße Grup­pen mus­li­mi­scher Kriegs­ge­fan­ge­ner, die in Zos­sen in mus­li­mi­sche SS-Regi­men­ter ein­ge­glie­dert wor­den waren. Nach­dem Al-Huss­ei­ni Ende 1944 nach Süd­deutsch­land geflüch­tet war, führ­te Ami­na Mos­ler die Moschee durch die Zeit der Bom­bar­die­rung Ber­lins, unter ande­rem indem sie die rote sowje­ti­sche Flag­ge auf dem Moschee­dach hiss­te. 1947, als Abdul­lah wie­der aus Laho­re anreis­te, sorg­te sie dafür, dass die Moschee Grün­dungs­mit­glied in der neu ent­stan­de­nen  „Arbeits­ge­mein­schaft Kir­chen und Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten in Groß-Ber­lin“ wur­de. Mit die­sem Schritt wur­de die Gemein­de end­gül­tig im öffent­li­chen reli­giö­sen Leben der Stadt ver­an­kert. Die Moschee arbei­te­te fort­an eng mit Chris­ten, Juden und Bud­dhis­ten zusam­men und hat­te Zugang zum Rund­funk und zu den Volkshochschulen.

Bis 1959 behielt Ami­na Mos­ler die admi­nis­tra­ti­ve Lei­tung über die Moschee. In ihrer 20-jäh­ri­gen Ägi­de über­nahm zwar eine Rei­he von Ima­men (Al-Huss­ei­ni, SM Abdul­lah, Her­bert Hobohm, Abdul Aziz Khan) die Ver­ant­wor­tung für die Frei­tags­pre­dig­ten und die jähr­li­chen Id-Fei­ern. Aber kei­ner von ihnen blieb län­ger als zwei Jah­re. Erst mit der Ankunft des jun­gen Mis­sio­nars Yahya Butt im sel­ben Jahr änder­te sich die­ses Mus­ter grund­le­gend. Butt über­nahm die täg­li­che Lei­tung, schrieb sich an der Frei­en Uni­ver­si­tät als Stu­dent ein und zog in der Fol­ge­zeit ein über­wie­gend stu­den­ti­sches Publi­kum an. Zehn Jah­re spä­ter war er ein stadt­be­kann­ter mus­li­mi­scher „Stu­den­ten­pas­tor“,  der regel­mä­ßig im Radio zu hören war und neben­bei Lehr­auf­trä­ge an der FU durchführte.

Die­se und ande­re Begeg­nun­gen hin­ter­lie­ßen viel­fäl­ti­ge Spu­ren in der Ver­wal­tung des Moschee­all­tags, die sich im soge­nann­ten Moschee­ar­chiv ver­fol­gen las­sen. Im Lau­fe der Zeit ver­stau­ten die Ver­wal­ter älte­re Unter­la­gen irgend­wo im Mis­si­ons­haus der Ber­li­ner Ahma­di­y­ya-Moschee und das Archiv als Gan­zes geriet aus dem Blick. Als „ver­lo­ren gegan­gen“ auf­ge­ge­ben, wur­de es 2017 wiedergefunden.

Im Fol­gen­den soll dar­über berich­tet wer­den, wel­che Mate­ria­li­en im Moschee­ar­chiv auf­be­wahrt wur­den. Dafür skiz­ziert der Bei­trag zuerst den his­to­ri­schen Hin­ter­grund: die Bemü­hun­gen um reli­giö­se Revi­ta­li­sie­rung in Bri­tisch-Indi­en und die trans­lo­ka­len Akti­vi­tä­ten der Ahma­di­y­ya, ein­schließ­lich ihrer Mis­si­on in Ber­lin. Anschlie­ßend wird das Archiv­gut beschrie­ben und anhand des­sen fest­ge­stellt, mit wel­chen Tätig­kei­ten die Ima­me in Ber­lin die von ihnen vor­ge­schla­ge­ne reli­giö­se Revi­ta­li­sie­rung ein­zu­lö­sen ver­such­ten. Das Moschee­ar­chiv könn­te dazu bei­tra­gen, bes­ser zu ver­ste­hen, was deut­sche Lebens­re­for­mer (in der Nach­kriegs­zeit Hip­pies und flower power Kin­der) und indi­sche Refor­mer ein­an­der zu sagen hatten.

Islamische Mission versus Britische „Zivilisierungsmission“

Seit den 1830er-Jah­ren ver­such­ten christ­li­che Mis­sio­na­re in Bri­tisch-Indi­en im Diens­te der west­li­chen „Zivi­li­sie­rungs­mis­si­on“ loka­le kul­tu­rel­le Tra­di­tio­nen mit aggres­si­ven Mit­teln euro­päi­schen Nor­men anzu­pas­sen (Osterhammel/Petersson 2003:56). Ihre Vor­ge­hens­wei­se war wenig erfolg­reich, son­dern rief viel­mehr Wider­stand unter Hin­dus, Sikhs, Bud­dhis­ten und Mus­li­men glei­cher­ma­ßen her­vor. Ob nun in Laho­re, Kal­kut­ta oder Colom­bo, über­all im Kolo­ni­al­reich übten Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten laut­stark Kri­tik an den Bri­ten und ihrem Lebens­stil. Man warf den Kolo­ni­al­her­ren „Kor­rup­ti­on“ und „Sit­ten­lo­sig­keit“ vor. Gleich­zei­tig ent­stan­den zahl­rei­che reli­giö­se Initia­ti­ven, die bestrebt waren, eige­ne Tra­di­ti­on zu revi­ta­li­sie­ren und die­se so dem bri­ti­schen Zugriff zu ent­zie­hen. Orga­ni­sa­ti­ons­for­men der christ­li­chen Her­aus­for­de­rer dien­ten den Refor­mern der indi­schen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten dabei durch­aus als Modell (Tyrell 2004:29–30).

Wäh­rend im Süden des Sub­kon­ti­nents die Vor­schlä­ge der Theo­so­phi­cal Socie­ty Bud­dhis­ten und Hin­dus glei­cher­ma­ßen beflü­gel­ten (Zan­der 2007:25–32, Bay­ly 2004:328, Lin­se 2002: 406), bot sich im Nor­den Mir­za Ghul­am Ahmad, Grün­der der Ahma­di­y­ya Bewe­gung, den indi­schen Mus­li­men als Inkar­na­ti­on Bud­dhas und Jesus’ an. Dabei dreh­te er die Stoß­rich­tung der christ­li­chen Mis­si­on um (Jon­ker 2016: 12–63). Um 1900 brach­ten Schü­ler sei­ne Bot­schaft nach Afgha­ni­stan, Ost­afri­ka und Nie­der­län­disch Indi­en. 1923 wur­de mit dem Bau der Moschee in Ber­lin begon­nen. Nach dem Vor­bild christ­li­cher Mis­sio­nen und basie­rend auf den Erfah­run­gen der Ahma­di­y­ya in ande­ren Regio­nen der Welt,  ver­such­ten Ahma­di Mis­sio­na­re nun mit der deut­schen Bevöl­ke­rung ins Gespräch zu kom­men. Mit Blick auf die ent­ste­hen­de glo­ba­le Welt boten sie Vor­trä­ge über aktu­el­le The­men an, dar­un­ter die Reli­gi­on der Zukunft, der Mensch der Zukunft, die See­le als Medi­um zwi­schen „Ost und West“, sowie die Neu­ord­nung der Geschlech­ter (Jon­ker 2018: 94–123).

Die Verwaltung der Berliner Missionsgemeinde

Im Archiv­gut der Ber­li­ner Moschee las­sen sich die Hand­schrif­ten von vier ver­schie­de­nen Ver­wal­tern aus­ma­chen. Es sind dies Imam S.M. Abdul­lah (1928 – 1940), die Kon­ver­ti­tin Alex­an­dri­na Ami­na Mos­ler (1940 – 1960), Imam Yahya Butt (1959 – 1989) und Imam Chau­dry (1989 – 2004). Muham­mad Aman Hobohm, der von 1949 bis 1954 als Imam bestellt war, über­ließ die Ver­wal­tung Frau Mos­ler. Von ihm wur­de ledig­lich eine Kis­te mit Reno­vie­rungs­un­ter­la­gen und Ent­wür­fen für eine neue Zeit­schrift über­lie­fert. Spu­ren der bei­den ers­ten Mis­sio­na­re, Sadr Uddin (1923 – 1926) und Khan Dur­ra­ni (1926 – 1928), las­sen sich hin­ge­gen nicht mehr fin­den. Die Spra­che der Ver­wal­tung war deutsch. Nur die Kor­re­spon­denz mit dem Mut­ter­haus in Laho­re wur­de in Urdu geführt.

Für den Erfolg der Mis­si­on der Ahma­di­y­ya in Euro­pa wur­de eine eige­ne Über­set­zung des Korans ins Deut­sche als zen­tral erach­tet. Gleich nach sei­ner Ankunft fing Sadr Uddin an, den ara­bi­schen Grund­text ins Eng­li­sche zu über­tra­gen, wäh­rend Hugo Mar­cus, ein Ber­li­ner, der 1923 bereits zum Islam kon­ver­tier­te, den eng­li­schen Text ins Deut­sche über­setz­te. Ihre Über­set­zung ging erst 1939, kurz vor Kriegs­an­fang, in den Druck. In der Moschee­bi­blio­thek ste­hen noch Exem­pla­re die­ser Über­set­zung, aber nach ihren Noti­zen und Typo­skrip­ten sucht man ver­geb­lich. Dafür fand sich ein groß­for­ma­ti­ges gebun­de­nes Heft, das im Juli 1939 ein­ge­rich­tet wur­de und die Käu­fer von Exem­pla­ren des Korans in deut­scher Spra­che mit Datum und Adres­se ver­merk­te. Die Ein­tra­gun­gen zei­gen, dass die Ver­käu­fe bis tief in den Krieg hin­ein fort­ge­setzt wurden.

Eine Seite aus dem Heft mit den Koranverkäufen im Archiv der Wilmersdorfer Moschee
Abb. 1: Eine Sei­te aus dem Heft mit den Koranverkäufen

Sadr Uddins Nach­fol­ger Sheikh Muha­med Abdul­lah stell­te die Ver­wal­tung auf eine metho­di­sche Grund­la­ge. So instal­lier­te er unter ande­rem Ord­ner mit Vor­la­gen für die Mos­le­mi­sche Revue, die haus­ei­ge­ne Mis­si­ons­zeit­schrift, wel­che wie­der­um aus den wöchent­lich statt­fin­den­den und eben­falls gesam­mel­ten Vor­trä­gen schöpf­te. Von die­sen Doku­men­ten über­leb­ten den Krieg nur eini­ge weni­ge Bruch­stü­cke auf dem Boden einer Kis­te, in der über die Jah­re hin­weg alte Haus­halt­ge­rä­te gela­gert wur­den. So ging zwar für die nach­fol­gen­den Ima­me das Wis­sen um die Akti­vi­tä­ten der Vor­gän­ger ver­lo­ren. Weg­ge­wor­fen wur­de aber nichts: auch die­se Kis­te fand sich schließ­lich im Kel­ler wieder.

Für den Erfolg der Laho­re-Ahma­di­y­ya Bewe­gung in Indi­en waren Nach­rich­ten über den Fort­gang der Ber­li­ner Mis­si­on von zen­tra­ler Bedeu­tung. Aus die­sem Grund erstat­te­ten die Mis­sio­na­re in Ber­lin dem „Mut­ter­haus“ in Laho­re regel­mä­ßig Bericht, über­setz­ten zen­tra­le Bei­trä­ge der Ber­li­ner Debat­te in Urdu und Eng­lisch, und stell­ten ihrem indi­schen Publi­kum die wich­tigs­ten Kon­ver­ti­ten vor. Ord­ner wur­den ange­legt und füll­ten sich mit Durch­schlä­gen von hand­ge­schrie­be­nen Brie­fen in Urdu; mit Typo­skrip­ten von Über­set­zun­gen für die in Laho­re erschei­nen­den Zeit­schrif­ten The Light (in Eng­lisch) und Paigham-e-Sulh (in Urdu), sowie mit Fotos und Kurz­bio­gra­phien von in Deutsch­land gewon­ne­nen „neu­en Muslimen“.

Zum Auf­trag der Mis­sio­na­re gehör­te es, neben der regel­mä­ßi­gen Pre­digt, auch den stän­di­gen Kon­takt zu Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten zu pfle­gen, die sich offen für reli­gious pro­gress zeig­ten. Eini­ge Doku­men­te, die irgend­wann in eine Kis­te geschüt­tet wur­den um Platz für Neu­es zu schaf­fen, wei­sen in Rich­tung Jüdi­sche Reform­ge­mein­de und Bud­dhis­ti­sches Haus in Ber­lin.

Der Kern der Arbeit wur­de indes in dicken Leit­z­ord­nern abge­hef­tet, die mit „Neue Mus­li­me“ beschrif­tet wur­den und noch immer im Büro des heu­ti­gen Imams ste­hen. Auf Nach­fra­ge gab er an, mit Ord­nern zu arbei­ten, die 1959 begon­nen wur­den. Die­se Ord­ner sind ein Bei­spiel eines leben­di­gen Archivs. Sie zeu­gen eben­falls von dem gro­ßen Inter­es­se, auf das die Mis­si­on in der deut­schen Bevöl­ke­rung stieß. Dem­ge­gen­über geben Aus­tritt­be­schei­ni­gun­gen aus Kir­chen- und Syn­ago­gen­re­gis­tern, die sich wie­der­um ver­ein­zelt im Kel­ler wie­der­fan­den, einen Ein­druck von den büro­kra­ti­schen Pro­zes­sen, mit denen sich Chris­ten wie Juden aus ihren alten reli­giö­sen Bin­dun­gen lösten.

Neben dem Über­tritt zum Islam stand in die­ser Moschee auch die inter­kul­tu­rel­le Hei­rat hoch im Kurs. Davon zeu­gen wie­der­um ande­re Hei­rats­ord­ner im Büro des Imams. Ers­te Ein­bli­cke in die­se Pra­xis ver­schafft ein Kon­vo­lut, das 1959 begon­nen und 1973 abge­schlos­sen wur­de. In die­sem Zeit­raum tra­ten 194 Paa­re mit der Bit­te um Seg­nung an den Imam her­an. 71 von ihnen hat­ten die Doku­men­te ihrer Stan­des­amt­strau­ung bereits dabei. Ande­re unter­zeich­ne­ten nur eine Absichts­er­klä­rung und wur­den damit beauf­tragt, zunächst eine bür­ger­li­che Hei­rat abzu­schlie­ßen. Die Män­ner die­ser Paa­re stamm­ten über­wie­gend aus isla­mi­schen Län­dern, wäh­rend die Frau­en über­wie­gend aus Deutsch­land kamen. In 43 Fäl­len lag für die Frau ein Doku­ment bei, das ihren Über­tritt zum Islam bezeug­te. In nur eini­gen weni­gen Doku­men­ten fin­det sich ein Ver­merk über eine spä­te­re Auf­lö­sung der Hei­rat. Die Hei­rats­mit­gift betrug in der Regel von 5000 DM oder mehr, ein für die Zeit sehr gro­ßen Betrag. In den Foto­al­ben, wel­che jeder Mis­sio­nar anleg­te, lässt sich gut nach­ver­fol­gen, dass die Ahma­di­y­ya-Gemein­de stets wohl­si­tu­ier­ten Krei­sen entstammte.

Eine Heiratsgesellschaft vor der Wilmersdorfer Moschee
Abb. 2: Eine Hei­rats­ge­sell­schaft vor der Moschee. In der Mit­te des Bil­des: das frisch ver­hei­ra­te­te Paar Shahi­di aus Laho­re und Hil­de Scharf aus Ber­lin. Zwei­ter von links: Imam Abdul­lah (Foto­al­bum Abdul­lah 1928)

In Ber­lin sahen sich die Mis­sio­na­re auch mit den deut­schen Ver­eins­struk­tu­ren und dazu gehö­ri­gen Berichts­pflich­ten kon­fron­tiert. Nach lan­ger Vor­be­rei­tung wur­de 1930 die Deutsch-Mos­le­mi­sche Gesell­schaft (DMG) gegrün­det und als Ver­ein ein­ge­tra­gen. Laut Sat­zung soll­te sie die Freund­schaft zwi­schen Mus­li­men und Deut­schen beför­dern. In der Pra­xis gestal­te­te die Gesell­schaft die Arbeit in der Moschee sowohl unter Gesichts­punk­ten der mus­li­mi­schen Moder­ne als auch der deut­schen Lebens­re­form. Die­ses Zusam­men­ge­hen zwei­er Bewe­gun­gen schlug sich eben­falls im Archiv nie­der. Neue Ord­ner wur­den ange­legt für Plä­ne und Berich­te, die Ver­eins­sat­zung und die Mit­glie­der­lis­ten. Die per­sön­li­chen Foto­samm­lun­gen des Imam Abdul­lah geben auch Aus­kunft über das gesel­li­ge Zusam­men­le­ben von Indern und Deut­schen, die sich neben dem intel­lek­tu­el­len Aus­tausch, ger­ne auch mit Ten­nis, Rudern und Wan­dern beschäftigten.

Eine Tennisgesellschaft im Garten der Wilmersdorfer Moschee
Abb. 3: Eine Ten­nis­ge­sell­schaft im Gar­ten der Moschee. Von links nach rechts: Muham­med Sayy­id Abd-el-Aal, Ehe-mann der neben ihm ste­hen­den Irma Gohl, NN, Imam Abdul­lah (Foto­al­bum Abdul­lah 1929).

Mit­te der 1930er Jah­re ver­klag­ten ara­bi­sche Mus­li­me in Ber­lin, denen die­se gemein­sa­men Akti­vi­tä­ten suspekt vor­ka­men und die sie als „unis­la­misch“ ver­teu­fel­ten, die Mis­sio­na­re und ver­such­ten, die Moschee an sich zu rei­ßen. Dabei bemüh­ten sie sich auch, die Nazis auf ihre Sei­te zu zie­hen, was aber nicht gelang. Auch die Gerichts­pro­zes­se, die sich dar­aus erga­ben, wur­den archiviert.

Imam Abdul­lah war es auch, der eine eige­ne Moschee­bi­blio­thek ein­rich­te­te. Wäh­rend des Krie­ges wur­den die Bücher zum Schutz vor Bom­ben­an­grif­fen in einem Sei­ten­zim­mer im Kel­ler unter­ge­bracht. Dar­aus sind sie spä­ter wohl nie mehr her­vor­ge­holt wor­den. So ent­stand ein in sich geschlos­se­nes, zeit­lich begrenz­tes Kon­vo­lut. Die­se Biblio­thek muss eben­falls zum Moschee­ar­chiv gerech­net wer­den, eben weil sie prä­zi­se Aus­sa­gen über Lese­inter­es­sen in der Zwi­schen­kriegs­zeit erlaubt und ein Bild davon ver­mit­teln kann, was der Imam „sah“.

Wie in jeder Moschee­bi­blio­thek üblich, nutz­te Abdul­lah die Abtei­lung VIII (römisch 8) um Infor­ma­ti­on über das unmit­tel­ba­re Umfeld der Moschee ein­zu­ho­len. Kon­kret trug er hier aktu­el­le Publi­ka­tio­nen über Theo­so­phie und Lebens­re­form zusam­men. Neben der Zeit­schrift Theo­so­phi­sches Leben und den Schrif­ten Krish­na­mur­tis fin­det man hier Bücher über Yoga, den ‚uni­ver­sa­len Sufis­mus’, Frau­en­bil­dung, Schul­re­form, Vege­ta­ris­mus, oder auch die Metho­den natür­li­cher Krebs­be­hand­lung des schwe­di­schen Lebens­re­for­mers Ari Waer­land. Mit­te der 1930er kamen „Berich­te jun­ger Men­schen aus Paläs­ti­na“ und das „Paläs­ti­na ABC“ hin­zu, was dar­auf hin­weist, dass der Imam bzw. die Moschee jüdi­sche Besu­cher über Aus­wan­de­rungs­mög­lich­kei­ten nach Paläs­ti­na infor­mier­te. Die letz­ten Bücher, die Abdul­lah erwarb, waren der Nazi-Per­spek­ti­ve auf den Islam gewid­met (u.a. Otto Krantz, Das Schwert des Islam, 1939).  Als er schließ­lich im Okto­ber 1939 abreis­te, wur­de sei­ne Samm­lung geschlossen.

1946 star­te­te Frau Mos­ler, die über den Krieg hin­weg die Moschee offen gehal­ten und ihre Schät­ze so gut wie mög­lich geschützt hat­te, Auf­ru­fe im RIAS, um die in Deutsch­land ver­blie­be­nen Mus­li­me aus­fin­dig zu machen. Auch ihre mit Blei­stift geschrie­be­ne Adres­sen­lis­te (ledig­lich vier aus einem Schul­heft geris­se­ne Sei­ten) fand sich unter den Archiv­do­ku­men­ten. Sie ist ein wich­ti­ges Zeug­nis, zeigt sie doch, wie vie­le und wel­che Mus­li­me wäh­rend des Krie­ges in Deutsch­land blie­ben. Die Tat­sa­che, dass ihre Adres­sen in den bes­ten Wohn­ge­gen­den Ber­lins (Wil­mers­dorf, Frie­den­au, Zehlen­dorf) lagen, weist dar­auf hin, dass es Ihnen dabei gut gegan­gen war.

Adressenliste von 1946 aus dem Archiv der Wilmersdorfer Moschee
Abb. 4: Adres­sen­lis­te von 1946. Fünf­ter von oben ist Dr. Mohd Hel­my, der Arzt, der sei­ne jüdi­sche Pra­xis­hel­fe­rin vor der Gesta­po ver­steck­te (Stein­ke 2017)

Acht­zig Jah­re lang sta­pel­ten sich so die Ord­ner und Kis­ten, bis die Moschee 2004 geschlos­sen wur­de. Da lager­te bereits ein gro­ßer Teil der Admi­nis­tra­ti­ons­do­ku­men­te im Kel­ler. Yahya Butt hat­te schon bei Dienst­an­tritt 1959 die Vor­kriegs­ord­ner, die den Krieg über­lebt hat­ten, in Kar­tons geleert, die­se im Kel­ler gesta­pelt und nach und nach mit Haus­halts­müll auf­ge­füllt. Der letz­te Ver­wal­ter Imam Chau­dry stell­te, als er fort­ging, die rest­li­chen Ord­ner in Wand­schrän­ke und ver­stell­te die­se mit Bücher­re­ga­len. Was über­all sicht­bar ste­hen blieb und die Zim­mer gera­de­zu ver­stopf­te, waren Kar­tons mit reli­giö­sen Trak­ta­ten, einst das wich­tigs­te Mit­tel zur Ver­brei­tung der  Mis­si­ons­bot­schaft der Ahma­di­y­ya. Mit dem Ein­tritt ins Inter­net­zeit­al­ter gab es für sie kei­nen Bedarf mehr.

Blick in den Keller des Missionshauses
Abb. 5: Blick in den Kel­ler des Mis­si­ons­hau­ses. © Ger­dien Jonker
Blick in den Schlafzimmerschrank des Missionshauses der Ahmadiyya
Abb. 6: Blick in den Schlaf­zim­mer­schrank des Mis­si­ons­hau­ses. © Ger­dien Jonker
Kartons mit religiösen Traktaten im Empfangszimmer des Imams der Wilmersdorfer Moschee
Abb. 7: Kar­tons mit reli­giö­sen Trak­ta­ten im Emp­fangs­zim­mer des Imams. © Ger­dien Jonker

Die Sicherung des Archivgutes

Mit Blick auf den nahen­den 100. Geburts­tag wer­den die Moschee und das Ver­wal­tungs­haus gegen­wär­tig reno­viert. Dabei kam 2017 das gesam­te Moschee­ar­chiv wie­der zum Vor­schein. Tei­le des Archiv­gu­tes waren zwar in der Ver­gan­gen­heit mit Was­ser in Berüh­rung gekom­men und hat­ten dem­entspre­chend Scha­den genom­men. Der größ­te Teil aber, der in Wand­schrän­ken weg­ge­schlos­sen wur­de, befand sich in einem bemer­kens­wert guten Zustand. Beim suk­zes­si­ven Auf­fin­den ließ sich fest­stel­len, dass es sich um ca. 14 Meter archi­vier­ter Doku­men­te – dar­un­ter ca. 100 Ord­ner und etli­che Papier­sta­pel – han­delt. Nach ers­ter Sich­tung des Bestan­des ist von ca. 70.000 Archi­va­li­en auszugehen.

Den wich­tigs­ten Fund­ort bil­de­ten die Ein­bau­schrän­ke im Haus neben der Moschee. Im Schlaf­zim­mer­schrank stie­ßen wir auf einen erheb­li­chen Teil des Vor­kriegs­ar­chivs. Ein Dop­pel­schrank im Büro offen­bar­te das Nach­kriegs­ar­chiv von 1959 bis 2004. Als schließ­lich der Kel­ler ent­rüm­pelt wur­de, kam der größ­te Fund zum Vor­schein. Hier befan­den sich das Kriegs­ar­chiv, die Kor­re­spon­denz mit dem Mut­ter­haus in Laho­re, Doku­men­te über Kir­chen- und Syn­ago­gen-Aus­strit­te, Kis­ten vol­ler Mis­si­ons­trak­ta­te aus 100 Jah­ren, Bau­ord­ner, wel­che die zahl­rei­chen Teil­re­no­vie­run­gen doku­men­tie­ren (die Moschee­kup­pel und die Mina­ret­te wur­den bei Kriegs­en­de zer­stört), sowie Ord­ner mit Ver­eins­un­ter­la­gen und Kor­re­spon­den­zen mit dem Registeramt.

Nun ist Archiv­gut, in wel­chen Zustand auch immer, noch kein Archiv. Wie die Admi­nis­tra­ti­on von Fuß­ball­ver­ei­nen, Sprach­schu­len, Orches­tern oder Hei­mat­ver­ei­nen, so ist auch die Regis­tra­tur einer reli­giö­sen Ver­ei­ni­gung Pri­vat­be­sitz. Das bedeu­tet, dass sie nicht öffent­lich ein­seh­bar ist, auch wenn es sich um Mate­ri­al han­delt, das bald ein­hun­dert Jah­re alt ist und lan­ge ver­nach­läs­sigt her­um­ge­le­gen hat. Der ers­te Schritt zur Zugäng­lich­ma­chung war daher die Kon­takt­auf­nah­me mit dem Lan­des­ar­chiv Ber­lin. Der zwei­te Schritt erfolg­te im Sep­tem­ber 2018, als der Vor­stand der Ahma­di­y­ya Orga­ni­sa­ti­on aus Laho­re und Eng­land anreis­te, um mit dem Lan­des­ar­chiv Ber­lin einen Ver­trag über die Siche­rung des Archiv­gu­tes abzu­schlie­ßen. Als drit­ten Schritt reich­te das Erlan­ger Zen­trum für Islam und Recht in Euro­pa einen För­der­an­trag bei der DFG ein um eine Archiv-Sys­te­ma­tik  zu ent­wi­ckeln und den Fund einer ers­ten Unter­su­chung zu unter­zie­hen. Die Bewil­li­gung steht zwar noch aus, Ziel ist es den­noch, das Moschee­ar­chiv der Laho­re-Ahma­di­y­ya in Ber­lin im Jahr 2021 im Lan­des­ar­chiv Ber­lin auf­zu­stel­len und von da an öffent­lich zugäng­lich zu machen. Bis dahin müs­sen Inter­es­sen­ten sich noch gedul­den. For­scher, die sich für Glo­ba­li­sie­rungs­ge­schich­te, isla­mi­sche Reform, deutsch-indi­sche Bezie­hungs­ge­schich­te oder die Geschich­te der Lebens­re­form inter­es­sie­ren, erwar­tet dann jedoch ein gro­ßer Schatz.

Literaturverzeichnis

Bay­ly, Chris­to­pher A., The Birth of the Modern World 1780–1914. Oxford: Black­well, 2004.

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Jon­ker, Ger­dien, ‚Etwas hof­fen muß das Herz.’ Eine Fami­li­en­ge­schich­te von Juden, Chris­ten und Mus­li­men. Göt­tin­gen: Wall­stein, 2018.

Lin­se, Ulrich, „Theo­so­phie III. Theo­so­phi­sche Gesell­schaft (ab 1875)“. In: Ger­hard Krau­se, Ger­hard Müller (Hg.) Theo­lo­gi­sche Real­enzy­klo­pä­die, Bd. 33. Ber­lin: De Gruy­ter, 2002.

Oster­ham­mel, Jür­gen, Niels P. Peters­son, Geschich­te der Glo­ba­li­sie­rung. Dimen­sio­nen. Pro­zes­se. Epo­chen. Mün­chen: Beck, 2003.

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Zan­der, Hel­mut, Anthro­po­so­phie in Deutsch­land. Göt­tin­gen: Van­den­hoeck & Ruprecht, 2007.

Korrespondierende Archive

Das Mut­ter­haus der Laho­re-Ahma­di­y­ya Orga­ni­sa­ti­on in Laho­re bemüht sich im Augen­blick die Doku­men­ten­la­ge auf ihrer Sei­te zu sich­ten und zu digitalisieren.

Die Ver­wal­tung der Ahma­di­y­ya-Moschee in Woking (GB), die von 1913 bis 1965 im Besitz der Laho­re-Ahma­di­y­ya war, gilt als verschollen.

Zum Weiterlesen

aaiil.org – offi­zi­el­le Web­site der Laho­re-Ahma­di­y­ya Bewe­gung zur Ver­brei­tung isla­mi­schen Wissens

Agai, Bekim, Umar Ryad and Meh­di Sajid (eds.), Mus­lims in Inter­war Euro­pe – A Trans­cul­tu­ral His­to­ri­cal Per­spec­ti­ve. Lei­den: EJ Brill, 2015. Zum Her­un­ter­la­den: https://brill.com/downloadpdf/title/26701

Ger­dien Jon­ker, Erlan­ger Zen­trum für Islam und Recht in Euro­pa (EZIRE), Fried­rich-Alex­an­der Uni­ver­si­tät Erlangen 

MIDA Archi­val Refle­xi­con

Edi­tors: Anan­di­ta Baj­pai, Hei­ke Liebau
Lay­out: Mon­ja Hof­mann, Nico Putz
Host: ZMO, Kirch­weg 33, 14129 Ber­lin
Cont­act: archival.reflexicon [at] zmo.de

ISSN 2628–5029