Foto: Navina Sundaram.

Table of Con­tents
Lebens­lauf  | The­men  | First class immi­grant  | Lite­ra­tur­ver­zeich­nis

Navina Sun­daram ist eine der bedeu­tends­ten und zugleich am wenigs­ten aner­kann­ten Dokumentarfilm-Regisseur:innen in Deutsch­land der letz­ten fünf­zig Jah­re – in der Qua­li­tät ihrer Arbeit ver­gleich­bar mit [Harun] Faro­cki und [Klaus] Wil­den­hahn“, so der Filmwissen­schaftler Vin­zenz Hedi­ger anläss­lich der Pre­mie­re der eng­li­schen Fas­sung ihrer digi­ta­len Werk­bio­gra­phie Die Fünf­te Wand am 1. April 2023 in Delhi zwei Jah­re nach dem Launch der deut­schen Sei­te. Die Fünf­te Wand stellt das Werk der deutsch-indi­schen Jour­na­lis­tin Navina Sun­daram aus Archi­ven der ARD sowie aus ihrem Pri­vat­ar­chiv vor. Ihre Doku­men­tar­fil­me sind hier erst­mals online in vol­ler Län­ge ver­füg­bar. „Ihre Fil­me waren prä­sent, aber dann wur­den sie – wie so viel Frau­en­ar­beit – aus der Film­ge­schich­te her­aus­ge­schwie­gen“, führ­te Hedi­ger aus (Email­wech­sel 16. Juni 2023). Unver­mu­tet ent­stand mit der Fünf­ten Wand eine Kul­tur­ge­schich­te des „ande­ren Deutsch­lands“ in der BRD, aber auch der mul­ti­plen deutsch-indi­schen Ver­flech­tun­gen, die sel­ten so kon­zen­triert wie in dem Werk die­ser Grenz­gän­ge­rin her­vor­tre­ten. Ein brei­ter Reso­nanz­raum deutsch-indi­scher Migra­ti­ons­ge­schich­te im 20. und 21. Jahr­hun­dert wird mit Sun­darams Leben und Lebens­werk exem­pla­risch vorgestellt.

Von 1964 bis 2003 war Navina Sun­daram poli­ti­sche Fern­seh­re­dak­teu­rin beim Nord­deut­schen Rund­funk (NDR). Die Web­sei­te „Die Fünf­te Wand – Innen­an­sich­ten einer Außen­sei­te­rin oder Außen­an­sich­ten einer Innen­sei­te­rin“ (https://die-fuenfte-wand.de/de) ver­sam­melt knapp 70 Fil­me sowie Repor­ta­gen, Fotos, Brie­fe an ihre Eltern und Tex­te von ihr. Die meis­ten Fil­me haben ein 30- bis 45-minü­ti­ges For­mat. Die Nut­zungs­rech­te wur­den dem NDR in zähen Lizenz­ver­hand­lun­gen abge­run­gen. Hin­zu kom­men auf die­ser audio­vi­su­el­len Platt­form eine Aus­wahl von Tex­ten über die Jour­na­lis­tin aus der Zeit zwi­schen 1964 und 1993 sowie neu ein­ge­spiel­te Vide­os mit Kom­men­ta­ren bekann­ter Medi­en­schaf­fen­der in Deutsch­land wie Doro­thee Wen­ner oder Phil­ip Scheff­ner und Wissenschaftler:innen wie Urmi­la Goel und Brit­ta Ohm. Seit 2018 arbei­te­ten Mer­le Krö­ger und Marei­ke Ber­ni­en von der Pro­duk­ti­ons­fir­ma pong film zusam­men mit Navina Sun­daram an der Erstel­lung des digi­ta­len Archivs. Pong kura­tier­te die Samm­lung im Rah­men der Initia­ti­ve Archi­ve außer sich des Ber­li­ner Arse­nal – Insti­tut für Film und Video­kunst.

2022 wur­de Die Fünf­te Wand für den Grim­me Online Award nomi­niert. Man fragt sich, war­um die öffent­lich-recht­li­chen Sen­der nicht selbst ein Archiv mit his­to­ri­schen Auf­nah­men auf­bau­en? Die Kura­to­rin­nen dazu in einem Gespräch mit Alex­an­dra Schneider: 

[T]his is also why we call our pro­ject a door ope­ner: to actual­ly open the archi­ves of public tele­vi­si­on and extra­ct a spe­ci­fic coll­ec­tion to high­light a view, which might other­wi­se dis­ap­pear. In that sen­se, our archi­ve or coll­ec­tion is actual­ly an extra­c­tion of a much big­ger and insti­tu­tio­na­li­zed archi­ve. This is the first gap or the first lack we were con­fron­ted with. (Ber­ni­en et al. 2023)

Der Titel des Archivs ver­weist auf einen Brief Sun­darams an ihre Eltern vom 21.7.1969 anläss­lich der Mond­lan­dung, in dem sie den Fern­seh­bild­schirm als „fünf­te Wand“ bezeich­net: „Heu­te Nacht, wenn die zwei Astro­nau­ten auf dem Mond lan­den, wer­den Mil­lio­nen von Fern­seh­zu­schau­ern sie beob­ach­ten, und im Grun­de ist es genau­so weit weg wie Viet­nam, auf der ande­ren Wohn­zim­mer­sei­te: die fünf­te Wand.“ Auch der Unter­ti­tel „Innen­an­sich­ten einer Außen­sei­te­rin oder Außen­an­sich­ten einer Innen­sei­te­rin“ stammt von Sun­daram selbst, aus einer Stu­die über Indi­en im Deut­schen Fern­se­hen zwi­schen 1957 und 2005 (Sun­daram 2005). Allein der Initia­ti­ve von Navina Sun­darams Bru­der, dem berühm­ten Künst­ler Vivan Sun­daram ist es zu ver­dan­ken, dass fast alle Fil­me mit eng­li­schen Unter­ti­teln zur Ver­fü­gung ste­hen und somit sowohl der indi­schen als auch einer glo­ba­len Öffent­lich­keit zugäng­lich sind. Vivan Sun­daram ver­starb zwei Tage vor der eng­li­schen Pre­mie­re in Delhi. Das Goe­the-Insti­tut New Delhi hat­te die Finan­zie­rung der Über­set­zung durch Rubai­ca Jali­wa­la übernommen.

Das Bild zeigt ein altes schwarz-weiß Foto von Sundaram und eines von ihrem Bruder, gerahmt und auf einem Tisch mit Blumen angerichtet.
Fig. 1: Goe­the-Insti­tut Delhi, 1. April 2023. Copy­right: Son­ja Hegasy.

Die Kura­to­rin­nen sehen Die Fünf­te Wand „als Modell einer zukünf­ti­gen Archiv­pra­xis“, die das Archiv „als Raum, der (Medien)-Geschichte [und] nicht als Herr­schafts­nar­ra­tiv abbil­det, son­dern als Geflecht ver­schie­dens­ter – auch wider­sprüch­li­cher – his­to­ri­scher Erzäh­lun­gen, die Reso­nan­zen in der jewei­li­gen Gegen­wart erzeu­gen.“ Die Mache­rin­nen beto­nen den ver­floch­te­nen, dyna­mi­schen Cha­rak­ter der Samm­lung durch aus­gie­bi­ge Ver­knüp­fungs­hin­wei­se unter vie­len Doku­men­ten und durch einen Workspace, der wie­der­rum nach­fol­gen­de Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit der Fünf­ten Wand doku­men­tiert und Nutzer:innen zur Ver­fü­gung stellt. Die Kura­to­rin­nen laden dazu ein, ihnen wei­ter­füh­ren­de Recher­che­pfa­de und Bil­dungs­an­ge­bo­te mitzuteilen: 

Dies kön­nen bei­spiels­wei­se the­ma­ti­sche Film­rei­hen, medi­en­his­to­ri­sche oder migra­ti­ons­po­li­ti­sche Fra­ge­stel­lun­gen, For­schungs­an­sät­ze und ‑ergeb­nis­se, jour­na­lis­ti­sche und archiv­prak­ti­sche Übun­gen, Kom­men­ta­re zu ein­zel­nen Wer­ken oder Werk­grup­pen, wei­ter­füh­ren­des Mate­ri­al, Ver­an­stal­tungs­hin-wei­se oder rele­van­te Links zu ande­ren Web­sei­ten sein.

Das Archiv lebt und wird ergän­zend gefüllt. Im April 2023 wur­de Die Fünf­te Wand zum ers­ten Mal als begeh­ba­res Archiv in Ham­burg gezeigt. 2024 wan­dert die­se Aus­stel­lung vor­aus­sicht­lich nach Berlin.

Lebenslauf

Zum beruf­li­chen Wer­de­gang von Navina Sun­daram: Von 1964 bis 2003 war sie Redak­teu­rin beim NDR und Auslands­korrespondentin für die ARD. Gebo­ren 1945 in einer gut­bür­ger­li­chen Fami­lie aus Shim­la, der ehe­ma­li­gen Som­mer­haupt­stadt der Bri­ten am Fuße des Hima­la­ya Gebir­ges, lern­te sie Anfang der sech­zi­ger Jah­re den Asi­en-Kor­re­spon­den­ten der ARD, Hans Wal­ter Berg, ken­nen. Ab 1963 mode­rier­te Navina Sun­daram sei­ne Sen­dung Asia­ti­sche Minia­tu­ren

Das Bild zeigt ein Einzelbild aus dem Vorspann der Sendung "Asiatische Miniaturen". Man sieht einen Fächer, auf dem der Titel der Sendung eingeblendet ist.
Fig. 2: Film­still Asia­ti­sche Minia­tu­ren, Copy­right: NDR.

Für ihre ers­ten Bei­trä­ge lern­te sie Deutsch ono­ma­to­poe­tisch aus­wen­dig. Mit 19 Jah­ren ging Sun­daram für ein Volon­ta­ri­at zum NDR nach Ham­burg und mode­rier­te ab 1970 unter ande­rem den Welt­spie­gelextra 3Pan­ora­ma sowie ver­schie­de­ne Brenn­punk­te. Über das Aus­land mit der­sel­ben Dif­fe­ren­ziert­heit zu berich­ten wie über das Inland – von die­sem Anspruch zeugt ihre Arbeit; auch wenn eini­ge Kol­le­gen fan­den, über eine bun­des­deut­sche Land­tags­wahl sol­le sie bes­ser nicht berich­ten – die Zuschau­er wür­den ihr die Kom­pe­tenz dazu absprechen: 

Haupt­sa­che, ich war nicht zu sehen. Das Exo­ti­sche, die Ande­re, soll­te sicht­lich nicht zum All­tag wer­den! Ein Kol­le­ge wur­de immer ganz kon­fus, wenn ich in mei­nen Mode­ra­tio­nen von ‚uns‘ sprach. Er wuss­te nie, ob ich damit uns Inder oder uns Deut­sche mein­te, und das berei­te­te ihm Kopf­schmer­zen. Die indi­sche Kunst­his­to­ri­ke­rin Geeta Kapur nennt so etwas die ‚sym­me­tri­sche Hier­ar­chie von Zuge­hö­rig­keit und Nicht­zu­ge­hö­rig­keit, die wie eine Wipp­schau­kel funk­tio­niert.‘ (Sun­daram 2008: 30)

Unter ande­rem die Zunah­me gewalt­sa­mer Über­grif­fe auf Asyl­be­wer­ber und Ein­wan­de­rer im Zuge der Ver­ei­ni­gung bei­der deut­scher Staa­ten 1990 bewog Navina Sun­daram dazu, die Stel­le der Lei­te­rin des ARD-Fern­seh­stu­di­os Süd­asi­en in Neu-Delhi anzu­neh­men. Hier muss­te sie sogleich über die Zer­stö­rung der 500 Jah­re alten Bab­ri-Moschee in Ayod­hya durch Anhän­ger der rechts­extre­men Orga­ni­sa­tio­nen Vish­va Hin­du Paris­had und Bha­ra­ti­ya Janata Par­ty (BJP) berich­ten. Ihr Kame­ra­team wur­de dabei tät­lich ange­grif­fen. Meh­re­re Quel­len aus die­ser Zeit sind im Archiv vor­han­den. Navina Sun­daram reflek­tiert die­ses Zusam­men­fal­len faschis­to­ider Aus­schrei­tun­gen kri­tisch und nimmt 2018 mit Mer­le Krö­ger zwei Kom­men­ta­re zu den Dreh­ar­bei­ten in Ayod­hya für Die Fünf­te Wand unter dem Titel „1992 – Von Hoyers­wer­da nach Ayod­hya“ auf. Die Fil­me­ma­che­rin ist auch 2018 noch sicht­lich mit­ge­nom­men von der erleb­ten Gewalt, und den fana­ti­sier­ten Mas­sen, die die Moschee in weni­gen Stun­den in einen Schutt­hau­fen ver­wan­delt hat­ten. Der trans­na­tio­na­le Cha­rak­ter ihrer Arbei­ten wird hier auf der Ebe­ne der Quel­len und der Kom­men­ta­re sehr deut­lich. Sun­darams eige­ne Ein­ord­nung ‚Hoyerswerda/Ayodhya‘ bie­tet einen Ansatz, den Auf­stieg popu­lis­ti­scher und rechts­extre­mer Grup­pen nach dem Ende des Kal­ten Kriegs glo­bal ver­glei­chend zu unter­su­chen. Die Medi­en­an­thro­po­lo­gin Brit­ta Ohm weist in ihrem Kom­men­tar zu die­sen Fil­men dar­auf hin, dass die­ses Ereig­nis inter­na­tio­nal noch immer nicht als die ein­schlä­gi­ge Zäsur für den Auf­stieg der rechts­extre­men isla­mo­pho­ben BJP wahr­ge­nom­men wird: 

Die Zer­stö­rung der Moschee aus dem 16. Jahr­hun­dert gilt heu­te als der Wen­de­punkt in der hin­dut­va-Bewe­gung auf dem Weg zur domi­nie­ren­den Kraft und zur Über­nah­me des Staa­tes in Indi­en. Außer­halb Indi­ens ist die­ser Wen­de­punkt aller­dings immer noch kein wirk­li­ches All­ge­mein­wis­sen – im Gegen­satz zu ver­gleich­bar reli­gi­ös moti­vier­ter Gewalt, zum Bei­spiel der Zer­stö­rung der Bud­dha-Sta­tu­en in Afgha­ni­stan durch die Tali­ban. (min. 00:46- 01:09)

Themen

Das Bild zeigt einen Screenshot aus "Die Fünfte Wand". Eine Überschrift lautet "Libyen -aktuelle Situation" darunter Navina Sundaram, wie sie einen Bericht während einer Nachrichtensendung im Fernsehen vorträgt.
Fig. 3: Film­still aus Die Fünf­te Wand. Copy­right: NDR/Navina Sundaram.

Die Fünf­te Wand ist in vier Berei­che unter­teilt: Archi­va­li­en (Film, Foto, Text, Brief, Kom­men­tar), The­men (Medi­en, Migra­ti­on, Inter­na­tio­na­le Poli­tik, Deko­lo­ni­sie­rung, Kul­tur, Men­schen­rech­te, Ras­sis­mus, Arbeits­ver­hält­nis­se, Gen­der, Welt­wirt­schaft), Sen­de­rei­hen und Pro­duk­ti­ons­jahr. Tex­te und Brie­fe wer­den im Ori­gi­nal abge­bil­det sowie in Aus­zü­gen vor­ge­le­sen. Die­se dop­pel­te Funk­ti­on aus­ge­wähl­ter Quel­len ist im Übri­gen leicht zu über­se­hen. Rein schwar­ze Kacheln auf der Web­sei­te ver­wei­sen wie­der­um dar­auf, dass ein Archiv nie voll­stän­dig ist. Mit jedem Auf­ruf der Sei­te ord­nen sich die The­men auf der Sei­te ‚Archiv‘ neu, so dass immer wie­der neue Ver­flech­tun­gen buch­stäb­lich in den Vor­der­grund rücken. Dies ist mög­lich, da das Leben und die Inter­es­sen Navina Sun­darams als lei­ten­de rote Fäden so deut­lich her­vor­tre­ten und die Kom­bi­na­tio­nen intrin­sisch (d.h. bio­gra­phisch) mit­ein­an­der ver­bun­den sind – sei es ein Por­trät der indi­schen Jazz­sän­ge­rin Asha Puth­li, eine Repor­ta­ge über US-ame­ri­ka­ni­sche Mis­sio­na­re der Bagh­wan-Bewe­gung in der BRD, eine Lang­zeit­be­trach­tung über den Bre­mer Mör­der Bodo Fries oder die Lage in Liby­en. Inhalt­lich dre­hen sich Sun­darams Bei­trä­ge häu­fig um die anhal­ten­de Deko­lo­nia­li­sie­rung: Süd­afri­ka, West Saha­ra, Gui­nea-Bis­sau, Indien. 

Was aber haben „Ugan­da-Asia­ten“ mit Deutsch­land zu tun? Sun­daram gelingt es schon damals, die welt­his­to­ri­sche Bedeu­tung der Ereig­nis­se auf­zu­zei­gen. Umwelt­po­li­tik, Exo­tis­mus und All­tags­ras­sis­mus sind eben­so Gegen­stand ihrer Fil­me. Dabei zeigt sie das all­zu mensch­li­che Gesicht aller Sei­ten. Man darf deut­lich in die Kame­ra sagen, war­um man kei­ne Aus­län­der als Nach­barn haben möch­te. Jede/r steht und spricht für sich selbst – nie­mand wird in ihren Fil­men bloß­ge­stellt. Die Jour­na­lis­tin hat­te ein wun­der­ba­res Gehör für die unge­woll­ten Stil­blü­ten ihrer Gesprächs­part­ner. Auch Doku­men­tar­fil­me jün­ge­ren Datums, wie über die berühm­te indi­sche Künst­le­rin Amri­ta Sher-Gil, den Sun­daram 2007 im Auf­trag von Chris Der­con für die Tate Modern mach­te, beein­dru­cken als eine Fami­li­en­ge­schich­te der beson­de­ren Art.

Sun­darams The­men ver­blüf­fen heu­te, weil so vie­le davon eine blei­ben­de Aktua­li­tät demons­trie­ren: Yoga und die ner­vö­se Ablen­kungs­kul­tur, Arbeits­kräf­te­man­gel und Ein­wan­de­rung, Sou­ve­rä­ni­tät und die Inter­es­sen der ehe­ma­li­gen Kolo­ni­al­mäch­te, Jour­na­lis­mus und Sen­de­zeit, töd­li­cher Hind­una­tio­na­lis­mus oder Migrationsvordergrund.

Amrita Sher-Gil blickt auf diesem schwarz-weiß Foto direkt in die Kamera. Sie trägt einen gepunkteten Sari und mehrere, wahrscheinlich goldene, Armreifen. Ihr Haar ist in der Mitte gescheitelt.
Fig. 4: Amri­ta Sher-Gil. Unknown aut­hor pro­ba­b­ly Umrao Singh Sher-Gil (1870–1954), https://en.wikipedia.org/wiki/Amrita_Sher-Gil#/media /File:Amrita_Sher-Gil_2.jpg.

Sun­darams Bei­trä­ge wei­sen in allen For­ma­ten höchs­te Pro­fes­sio­na­li­tät und Reflek­ti­on auf. Eine Repor­ta­ge über die soge­nann­ten Ugan­da-Asia­ten, die 1972 nach über 200 Jah­ren Prä­senz von Idi Amin über Nacht aus dem Land gewor­fen wur­den, besticht dadurch, dass sie über ein Jahr lang die Lebens­we­ge der Geflüch­te­ten ab dem Auf­nah­me­la­ger in Eng­land beglei­tet. Die Bun­des­re­pu­blik bie­tet damals an, 1000 Men­schen auf­zu­neh­men. Nur drei­ßig indi­sche Fami­li­en lan­den schließ­lich in Deutsch­land. In dem Film „Dar­shan Singh will in Lever­ku­sen blei­ben“ beglei­tet Navina Sun­daram die Fami­li­en da Couh­na und Singh in ihrem neu­en All­tag unter Freun­den und am Arbeits­platz in Unna und Lever­ku­sen. Mit Peter Rösch, sei­nem Arbeits­kol­le­gen in der Auto­werk­statt von Bay­er, fährt Dar­shan Singh mit Fami­lie ver­gnügt durch das Bild in einem knall­ro­ten Amphi­bi­en­fahr­zeug über den Rhein bei Leverkusen.

Ein Einzelbild aus der Reportage zeigt Darshan Singh in seinem roten Wagen am Ufer des Rheins. Links neben dem Auto steht eine Frau (vielleicht Sundaram) und einige Kinder. Hinten im Wagen filmt ein Kameramann das Geschehen.
Fig. 5: Film­still aus Die Fünf­te Wand. Copy­right: NDR/Navina Sundaram.

Bei Hel­mut Kohl beschwert sich Singh über die Zwei­zim­mer­woh­nung, die ihm für sie­ben Per­so­nen zuge­wie­sen wur­de. Kohl kam vor­bei und Singh bekam ein Zim­mer mehr. Sun­daram zeigt Migra­ti­ons­wis­sen (s. Zloch 2021) avant la lett­re.

Ein Screenshot aus "Die Fünfte Wand" mit der Überschrift "Frauenherrschaft - wie gewonnen..." Darunter ein Einzelbild aus dem "Internationalen Frühschoppen. Sundaram sitzt mittig zwischen zwei älteren Herren und raucht eine Zigarette; alle drei trinken Wein.
Fig. 6: Der Inter­na­tio­na­le Früh­schop­pen. Film­still aus Die Fünf­te Wand. Copy­right: WDR/Navina Sundaram

Im Inter­na­tio­na­len Früh­schop­pen bei Wer­ner Höfer ana­ly­siert sie mit ihren Kol­le­gin­nen Caro­la Stern und Ros­han Dhun­jib­hoy das Ver­sa­gen der sozia­lis­ti­schen Politiker:innen in Süd­asi­en: „Solan­ge wir auf der Trom­mel des Sozia­lis­mus spie­len, kön­nen wir nie abge­wählt wer­den, sag­te ein – abge-wähl­ter – Abge­ord­ne­ter der indi­schen Kon­gress­par­tei. Er hat sich geirrt.“, so Sun­daram. „Und das kam auch daher, weil Indi­ra Gan­dhi anstatt die Armut zu bekämp­fen, die Armen bekämpft hat.“

Ein wei­te­res The­ma, das sich lohnt heu­te wie­der anzu­schau­en, sind ihre Repor­ta­gen über die abzie­hen­den Kolo­ni­al­mäch­te und ihre doch fort­dau­ern­de loka­le Ver­stri­ckung. Hen­ry Kis­sin­ger und Lê Đức Thọ erhiel­ten 1973 gemein­sam den Frie­dens­no­bel­preis für ein Waf­fen­still­stands- und Abzugs­ab­kom­men mit Nord­viet­nam, das zum Zeit­punkt der Ver­lei­hung noch nicht ein­mal in Kraft getre­ten war. Bei­de zogen es vor, nicht per­sön­lich zu der Zere­mo­nie zu erscheinen.

Ein Sen­de­mit­schnitt fehlt auf uner­klär­li­che Wei­se im Archiv des NDR: Navina Sun­daram berich­tet 1983 für Pan­ora­ma über den Fall von Kemal Alt­un, einem Stu­den­ten, des­sen Asyl­an­trag bewil­ligt wur­de, der jedoch gleich­zei­tig über vier­zehn Mona­te in Aus­lie­fe­rungs­haft fest­ge­hal­ten wur­de und in die Tür­kei abge­scho­ben wer­den soll­te. Das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um klag­te damals gegen das Bun­des­amt für Asyl vor dem Ber­li­ner Ver­wal­tungs­ge­richt. Wäh­rend der Ver­hand­lung öff­ne­te Alt­un ein Fens­ter im sechs­ten Stock des Ober­ver­wal­tungs­ge­richts Ber­lin und beging Selbst­mord. Sun­darams Film­team kommt tags drauf in die uner­war­te­te Lage, der Mut­ter die­se Nach­richt in ihrer Pri­vat­woh­nung zu über­brin­gen. Im Anschluss an ihre Bericht­erstat­tung führt Pan­ora­ma-Chef Peter Gat­ter ein Stu­dio­ge­spräch mit Navina Sun­daram zur Ein­ord­nung des Bei­trags. Die­se Aus­ga­be von Pan­ora­ma fehlt heu­te, ent­ge­gen allen Auf­be­wah­rungs­vor­schrif­ten des Sen­ders. Der Rund­funk­rat des NDR rügt die Redak­ti­on spä­ter für das Wei­ter­fil­men, wäh­rend der Mut­ter die Nach­richt über den Tod ihres Soh­nes über­bracht wird. Navina Sun­daram weist in einem der neu ein­ge­spiel­ten Kom­men­ta­re des Archivs dar­auf hin, das ver­gleich­bar exis­ten­ti­el­le Situa­tio­nen in der soge­nann­ten Drit­ten Welt durch­aus gefilmt wer­den, aber die Ver­zweif­lung einer Mut­ter in Ber­lin nicht abge­bil­det wer­den dür­fe. Sun­daram wirft hier ethi­sche Fra­gen aus einer de-kolo­nia­len Per­spek­ti­ve auf, die kaum oder erst sehr spät in hie­si­ge Medi­en­de­bat­ten Ein­gang gehal­ten haben. 

First class immigrant

Rauf- und run­ter­ge­lei­ert auf der Emo­ti­ons­ska­la habe ich das gars­ti­ge Lied von Gegen­sät­zen, die viel­leicht kei­ne waren, auf jeden Fall für mich kei­ne mehr sind: Insider/Outsider, Binnensicht/Außensicht, Ste­reo­sicht, Inklusion/Exklusion, fremd in der Hei­mat, hei­misch in der Frem­de. Befrem­dung, Ent­frem­dung, Ver­frem­dung, wur­zel­los und frei, ver­wur­zelt und ver­wursch­telt, homogen/hybrid, authentisch/künstlich, Einfalt/Vielfalt, Singularität/Diversität, Dop­pel­per­spek­ti­ve, Gren­zen gren­zen­los ver­wischt. (Sun­daram 2008: 27)

Wäh­rend der Sari für Sun­daram zunächst noch Authen­ti­zi­tät in Ham­burg und beim NDR bedeu­ten soll­te, woll­te sie sich als­bald durch die Klei­dung nicht wei­ter exponieren: 

Ich woll­te ja dazu­ge­hö­ren; ich hat­te den Spruch satt: ‚Nun wol­len wir es aus ‚ande­ren Augen’ betrach­tet sehen.‘ Ich woll­te aus die­ser geis­ti­gen Ghet­toi­sie­rung her­aus. Raus aus der Mar­gi­na­li­sie­rung, rein in den Main­stream. Das, was ich als nor­mal emp­fand, wur­de zum Exo­ti­schen erklärt und umge­kehrt. (Sun­daram 2008: 29)

Ein schwarz-weiß Foto, das Sundaram und Bode auf Stühlen sitzend beim Genuss von Wein und Zigaretten zeigt. Sundaram trägt einen Sari, Bode ein weißes Jacket mit dunkler Fliege.
Fig. 7: Mit dem Jour­na­lis­ten und lang­jäh­ri­gen Pres­se­at­ta­ché an der deut­schen Bot­schaft in Delhi Thi­lo Bode 1973 in Uhl­din­gen. Copy­right: Die Fünf­te Wand/Navina Sun­daram. 

Die Regis­seu­rin hat viel zur sub­ku­ta­nen Auf­klä­rung in der BRD bei­getra­gen – viel, gemes­sen dar­an, was man in einem Men­schen­le­ben schaf­fen kann. Anläss­lich des Starts der deut­schen Web­sei­te Die Fünf­te Wand 2021 erfuhr Navina Sun­darams Lebens­weg ver­stärk­te Auf­merk­sam­keit in den deut­schen Medi­en. Wie viel in ihrem Leben doch zusam­men­ge­kom­men war, erstaun­te sie selbst, wie sie in ihrem letz­ten Inter­view drei Mona­te vor ihrem Tod im April 2022 im Deutsch­land­funk erklär­te. Blei­ben oder gehen, ein­pas­sen oder her­vor­ste­chen?, die­se Fra­gen ver­folg­ten die indi­sche Han­sea­tin Zeit ihres Lebens. „‚Schö­ner ist es anders­wo, denn hier bin ich sowie­so‘ – tref­fen­der als Wil­helm Busch hät­te ich es auch nicht sagen kön­nen“, sagt Navina Sun­daram (2008: 35). 

Ihr digi­ta­les Archiv bie­tet Quel­len für eine Viel­falt von kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen und For­schungs­an­sät­zen. Die Bio­gra­fie der Jour­na­lis­tin reflek­tiert die vie­ler Intel­lek­tu­el­ler, die in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts in die BRD kamen und deren Ver­diens­te kaum prä­sent sind in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung und For­schung. Ste­pha­nie Zloch schreibt 2021 dazu: „Die enge Zusam­men­füh­rung von Migra­ti­on und Wis­sen, gar in der begriff­li­chen Prä­gung ‚Migra­ti­ons­wis­sen‘, war bis vor Kur­zem kaum vor­stell­bar.“ Zwar stellt Zloch fest, dass die Exil­for­schung ihren Blick bevor­zugt auf Intel­lek­tu­el­le und Kunst­schaf­fen­de rich­te (2021: 33), scheint mit ‚Intel­lek­tu­el­len‘ aber eher krea­ti­ve-künst­le­ri­sche Beru­fe zu mei­nen, denn die Leis­tun­gen von migrier­ten Mediziner:innen oder Lebens- und Naturwissenschaftler­:innen haben wohl erst mit den Lebens­we­gen von Uğur Şahin und Özlem Türe­ci, Gründer:innen der Fir­ma BioNtech, die den Impf­stoff Comirna­ty gegen die Infek­ti­ons­krank­heit COVID-19 ent­wi­ckel­te, brei­te­re Auf­merk­sam­keit erfah­ren. „Unter Migra­tio­nen wer­den räum­li­che Ver­la­ge­run­gen des Lebens­mit­tel­punk­tes ver­stan­den, die mit der bio­gra­fi­schen Erfah­rung von Unter­wegs-Sein und der Wahr­neh­mung von Dif­fe­renz ein­her­ge­hen“, so Zloch (2021: 34). Die­se Wahr­neh­mung von Dif­fe­renz und die Anpas­sungs­leis­tung von Migran­ten ist kaum kon­zep­tio­nell gefasst und die­se Lücke kann der Begriff des Migra­ti­ons­wis­sens füllen.

Navina Sun­daram hat sich selbst als „first class immi­grant“ bezeich­net. Aber auch der „Immi­grant ers­ter Klas­se“ bringt erhöh­te Auf­merk­sam­keit bezüg­lich Aus­gren­zung, dop­pel­ter Stan­dards, Ras­sis­mus und Unge­rech­tig­keit mit. In einer Refle­xi­on über die Hei­mat in der Frem­de schrieb sie: „Das Leben, die Arbeit in Deutsch­land, waren für mich zugleich unend­lich leicht und unend­lich schwer“ (2008: 9) – eine Sen­tenz, die das Leben des migrie­ren­den Bil­dungs­bür­ger­tums aus Asi­en, Afri­ka und Latein­ame­ri­ka nach Euro­pa auch heu­te kaum bes­ser beschrei­ben kann. In einem Inter­view mit Sal­man Rush­die von 1984, das eben­falls im Archiv zu sehen ist, sagt Rush­die über den

Emi­gran­ten-Intel­lek­tu­el­len: ‚Dass unse­re phy­si­sche Ent­frem­dung von Indi­en fast zwangs­wei­se bedeu­tet, dass es uns nicht gelin­gen wird, haar­ge­nau das zurück­zu­ge­win­nen, was wir ver­lo­ren haben; dass wir, kurz gesagt, Fik­tio­nen erschaf­fen, nicht tat­säch­li­che Städ­te oder Dör­fer, son­dern unsicht­ba­re, ima­gi­nä­re Hei­mat­län­der, ein jeder sein ganz per­sön­li­ches Indi­en der Phan­ta­sie.‘ (zit. n. Sun­daram 2008: 30)

Assi­mi­la­ti­on galt ihr, wie vie­len ihrer Gene­ra­ti­on, als wich­ti­ges Ele­ment von Inte­gra­ti­on. Die Fra­ge einer Rück­kehr in das Geburts­land wur­de immer wie­der auf- und ver­wor­fen und die Fra­ge, die deut­sche Staats­bür­ger­schaft anzu­neh­men, eben­so lan­ge umkreist. In der immer näher rücken­den Euro­päi­schen Uni­on waren es u.a. auch die stets schwie­ri­ge Visums­be­schaf­fung vor jeder Rei­se ins Aus­land und die damit ver­bun­de­ne – anhal­ten­de – Beschrän­kung der Bewe­gungs- und Rei­se­frei­heit, die sie und ande­re letzt­end­lich zu die­sem Schritt beweg­te. Noch bleibt die Geschich­te die­ses Milieus von Ein­wan­de­rern in Deutsch­land schemenhaft.

Ein altes Farbfoto zeigt Navina Sundaram an einem sonnigen Tag stehend vor einigen Förderbändern. Ihr Haar ist in der Mitte gescheitelt und sie lächelt. Sie trägt eine rote Bluse, eine beige Jacke, und eine dunkle Hose. In der rechten Hand hält sie ein Mikrofon, in der linken ihre Notizen.
Fig. 8: Spa­ni­ens Abzug aus der West­sa­ha­ra, Tages­schau 1976, Film­still aus Die Fünf­te Wand. Copy­right: ARD/Navina Sundaram.

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Dies ist eine erwei­ter­te sowie stark über­ar­bei­te­te Fas­sung des Bei­trags Hega­sy, Son­ja, „Raus aus der Mar­gi­na­li­sie­rung, rein in den Main­stream.“ Erin­ne­rung an die deutsch-indi­sche Jour­na­lis­tin Navina Sun­daram, Qantara.de, 18.04.2023, https://de.qantara.de/ node/49788.

Literaturverzeichnis

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Son­ja Hega­sy, Leib­niz-Zen­trum Moder­ner Ori­ent, Berlin

MIDA Archi­val Refle­xi­con

Edi­tors: Anan­di­ta Baj­pai, Hei­ke Liebau
Lay­out: Mon­ja Hof­mann, Nico Putz
Host: ZMO, Kirch­weg 33, 14129 Ber­lin
Cont­act: archival.reflexicon [at] zmo.de

ISSN 2628–5029