Foto: Nav­ina Sundaram.

Table of Con­tents
Lebenslauf  | The­men  | First class immi­grant  | Lit­er­aturverze­ich­nis

Nav­ina Sun­daram ist eine der bedeu­tend­sten und zugle­ich am wenig­sten anerkan­nten Dokumentarfilm-Regisseur:innen in Deutsch­land der let­zten fün­fzig Jahre – in der Qual­ität ihrer Arbeit ver­gle­ich­bar mit [Harun] Faroc­ki und [Klaus] Wilden­hahn“, so der Filmwissen­schaftler Vinzenz Hedi­ger anlässlich der Pre­miere der englis­chen Fas­sung ihrer dig­i­tal­en Werk­bi­ogra­phie Die Fün­fte Wand am 1. April 2023 in Del­hi zwei Jahre nach dem Launch der deutschen Seite. Die Fün­fte Wand stellt das Werk der deutsch-indis­chen Jour­nal­istin Nav­ina Sun­daram aus Archiv­en der ARD sowie aus ihrem Pri­vatarchiv vor. Ihre Doku­men­tarfilme sind hier erst­mals online in voller Länge ver­füg­bar. „Ihre Filme waren präsent, aber dann wur­den sie – wie so viel Fraue­nar­beit – aus der Filmgeschichte her­aus­geschwiegen“, führte Hedi­ger aus (Email­wech­sel 16. Juni 2023). Unver­mutet ent­stand mit der Fün­ften Wand eine Kul­turgeschichte des „anderen Deutsch­lands“ in der BRD, aber auch der mul­ti­plen deutsch-indis­chen Ver­flech­tun­gen, die sel­ten so konzen­tri­ert wie in dem Werk dieser Gren­zgän­gerin her­vortreten. Ein bre­it­er Res­o­nanzraum deutsch-indis­ch­er Migra­tions­geschichte im 20. und 21. Jahrhun­dert wird mit Sun­darams Leben und Lebenswerk exem­plar­isch vorgestellt.

Von 1964 bis 2003 war Nav­ina Sun­daram poli­tis­che Fernsehredak­teurin beim Nord­deutschen Rund­funk (NDR). Die Web­seite „Die Fün­fte Wand — Innenan­sicht­en ein­er Außen­sei­t­erin oder Auße­nan­sicht­en ein­er Innen­sei­t­erin“ (https://die-fuenfte-wand.de/de) ver­sam­melt knapp 70 Filme sowie Reporta­gen, Fotos, Briefe an ihre Eltern und Texte von ihr. Die meis­ten Filme haben ein 30- bis 45-minütiges For­mat. Die Nutzungsrechte wur­den dem NDR in zähen Lizen­zver­hand­lun­gen abgerun­gen. Hinzu kom­men auf dieser audio­vi­suellen Plat­tform eine Auswahl von Tex­ten über die Jour­nal­istin aus der Zeit zwis­chen 1964 und 1993 sowie neu einge­spielte Videos mit Kom­mentaren bekan­nter Medi­en­schaf­fend­er in Deutsch­land wie Dorothee Wen­ner oder Philip Scheffn­er und Wissenschaftler:innen wie Urmi­la Goel und Brit­ta Ohm. Seit 2018 arbeit­eten Mer­le Kröger und Mareike Bernien von der Pro­duk­tions­fir­ma pong film zusam­men mit Nav­ina Sun­daram an der Erstel­lung des dig­i­tal­en Archivs. Pong kuratierte die Samm­lung im Rah­men der Ini­tia­tive Archive außer sich des Berlin­er Arse­nal – Insti­tut für Film und Videokun­st.

2022 wurde Die Fün­fte Wand für den Grimme Online Award nominiert. Man fragt sich, warum die öffentlich-rechtlichen Sender nicht selb­st ein Archiv mit his­torischen Auf­nah­men auf­bauen? Die Kura­torin­nen dazu in einem Gespräch mit Alexan­dra Schneider: 

[T]his is also why we call our project a door open­er: to actu­al­ly open the archives of pub­lic tele­vi­sion and extract a spe­cif­ic col­lec­tion to high­light a view, which might oth­er­wise dis­ap­pear. In that sense, our archive or col­lec­tion is actu­al­ly an extrac­tion of a much big­ger and insti­tu­tion­al­ized archive. This is the first gap or the first lack we were con­front­ed with. (Bernien et al. 2023)

Der Titel des Archivs ver­weist auf einen Brief Sun­darams an ihre Eltern vom 21.7.1969 anlässlich der Mond­lan­dung, in dem sie den Fernse­hbild­schirm als „fün­fte Wand“ beze­ich­net: „Heute Nacht, wenn die zwei Astro­naut­en auf dem Mond lan­den, wer­den Mil­lio­nen von Fernse­hzuschauern sie beobacht­en, und im Grunde ist es genau­so weit weg wie Viet­nam, auf der anderen Wohnz­im­mer­seite: die fün­fte Wand.“ Auch der Unter­ti­tel „Innenan­sicht­en ein­er Außen­sei­t­erin oder Auße­nan­sicht­en ein­er Innen­sei­t­erin“ stammt von Sun­daram selb­st, aus ein­er Studie über Indi­en im Deutschen Fernse­hen zwis­chen 1957 und 2005 (Sun­daram 2005). Allein der Ini­tia­tive von Nav­ina Sun­darams Brud­er, dem berühmten Kün­stler Vivan Sun­daram ist es zu ver­danken, dass fast alle Filme mit englis­chen Unter­titeln zur Ver­fü­gung ste­hen und somit sowohl der indis­chen als auch ein­er glob­alen Öffentlichkeit zugänglich sind. Vivan Sun­daram ver­starb zwei Tage vor der englis­chen Pre­miere in Del­hi. Das Goethe-Insti­tut New Del­hi hat­te die Finanzierung der Über­set­zung durch Rubaica Jali­wala übernommen.

Das Bild zeigt ein altes schwarz-weiß Foto von Sundaram und eines von ihrem Bruder, gerahmt und auf einem Tisch mit Blumen angerichtet.
Fig. 1: Goethe-Insti­tut Del­hi, 1. April 2023. Copy­right: Son­ja Hegasy.

Die Kura­torin­nen sehen Die Fün­fte Wand „als Mod­ell ein­er zukün­fti­gen Archivprax­is“, die das Archiv „als Raum, der (Medien)-Geschichte [und] nicht als Herrschaft­snar­ra­tiv abbildet, son­dern als Geflecht ver­schieden­ster – auch wider­sprüch­lich­er – his­torisch­er Erzäh­lun­gen, die Res­o­nanzen in der jew­eili­gen Gegen­wart erzeu­gen.“ Die Macherin­nen beto­nen den ver­flocht­e­nen, dynamis­chen Charak­ter der Samm­lung durch aus­giebige Verknüp­fung­sh­in­weise unter vie­len Doku­menten und durch einen Work­space, der wieder­rum nach­fol­gende Auseinan­der­set­zun­gen mit der Fün­ften Wand doku­men­tiert und Nutzer:innen zur Ver­fü­gung stellt. Die Kura­torin­nen laden dazu ein, ihnen weit­er­führende Recherchep­fade und Bil­dungsange­bote mitzuteilen: 

Dies kön­nen beispiel­sweise the­ma­tis­che Film­rei­hen, medi­en­his­torische oder migra­tionspoli­tis­che Fragestel­lun­gen, Forschungsan­sätze und ‑ergeb­nisse, jour­nal­is­tis­che und archivprak­tis­che Übun­gen, Kom­mentare zu einzel­nen Werken oder Werk­grup­pen, weit­er­führen­des Mate­r­i­al, Ver­anstal­tung­shin-weise oder rel­e­vante Links zu anderen Web­seit­en sein.

Das Archiv lebt und wird ergänzend gefüllt. Im April 2023 wurde Die Fün­fte Wand zum ersten Mal als bege­hbares Archiv in Ham­burg gezeigt. 2024 wan­dert diese Ausstel­lung voraus­sichtlich nach Berlin.

Lebenslauf

Zum beru­flichen Werde­gang von Nav­ina Sun­daram: Von 1964 bis 2003 war sie Redak­teurin beim NDR und Auslands­korrespondentin für die ARD. Geboren 1945 in ein­er gut­bürg­er­lichen Fam­i­lie aus Shim­la, der ehe­ma­li­gen Som­mer­haupt­stadt der Briten am Fuße des Himalaya Gebirges, lernte sie Anfang der sechziger Jahre den Asien-Kor­re­spon­den­ten der ARD, Hans Wal­ter Berg, ken­nen. Ab 1963 mod­erierte Nav­ina Sun­daram seine Sendung Asi­atis­che Minia­turen

Das Bild zeigt ein Einzelbild aus dem Vorspann der Sendung "Asiatische Miniaturen". Man sieht einen Fächer, auf dem der Titel der Sendung eingeblendet ist.
Fig. 2: Film­still Asi­atis­che Minia­turen, Copy­right: NDR.

Für ihre ersten Beiträge lernte sie Deutsch ono­matopo­et­isch auswendig. Mit 19 Jahren ging Sun­daram für ein Volon­tari­at zum NDR nach Ham­burg und mod­erierte ab 1970 unter anderem den Welt­spiegelextra 3Panora­ma sowie ver­schiedene Bren­npunk­te. Über das Aus­land mit der­sel­ben Dif­feren­ziertheit zu bericht­en wie über das Inland – von diesem Anspruch zeugt ihre Arbeit; auch wenn einige Kol­le­gen fan­den, über eine bun­des­deutsche Land­tagswahl solle sie bess­er nicht bericht­en – die Zuschauer wür­den ihr die Kom­pe­tenz dazu absprechen: 

Haupt­sache, ich war nicht zu sehen. Das Exo­tis­che, die Andere, sollte sichtlich nicht zum All­t­ag wer­den! Ein Kol­lege wurde immer ganz kon­fus, wenn ich in meinen Mod­er­a­tio­nen von ‚uns‘ sprach. Er wusste nie, ob ich damit uns Inder oder uns Deutsche meinte, und das bere­it­ete ihm Kopf­schmerzen. Die indis­che Kun­sthis­torik­erin Gee­ta Kapur nen­nt so etwas die ‚sym­metrische Hier­ar­chie von Zuge­hörigkeit und Nichtzuge­hörigkeit, die wie eine Wipp­schaukel funk­tion­iert.‘ (Sun­daram 2008: 30)

Unter anderem die Zunahme gewalt­samer Über­griffe auf Asyl­be­wer­ber und Ein­wan­der­er im Zuge der Vere­ini­gung bei­der deutsch­er Staat­en 1990 bewog Nav­ina Sun­daram dazu, die Stelle der Lei­t­erin des ARD-Fernsehstu­dios Südasien in Neu-Del­hi anzunehmen. Hier musste sie sogle­ich über die Zer­störung der 500 Jahre alten Babri-Moschee in Ayo­d­hya durch Anhänger der recht­sex­tremen Organ­i­sa­tio­nen Vish­va Hin­du Parishad und Bharatiya Jana­ta Par­ty (BJP) bericht­en. Ihr Kam­er­ateam wurde dabei tätlich ange­grif­f­en. Mehrere Quellen aus dieser Zeit sind im Archiv vorhan­den. Nav­ina Sun­daram reflek­tiert dieses Zusam­men­fall­en faschis­toi­der Auss­chre­itun­gen kri­tisch und nimmt 2018 mit Mer­le Kröger zwei Kom­mentare zu den Drehar­beit­en in Ayo­d­hya für Die Fün­fte Wand unter dem Titel „1992 – Von Hoy­er­swer­da nach Ayo­d­hya“ auf. Die Filmemacherin ist auch 2018 noch sichtlich mitgenom­men von der erlebten Gewalt, und den fanatisierten Massen, die die Moschee in weni­gen Stun­den in einen Schut­thaufen ver­wan­delt hat­ten. Der transna­tionale Charak­ter ihrer Arbeit­en wird hier auf der Ebene der Quellen und der Kom­mentare sehr deut­lich. Sun­darams eigene Einord­nung ‚Hoyerswerda/Ayodhya‘ bietet einen Ansatz, den Auf­stieg pop­ulis­tis­ch­er und recht­sex­tremer Grup­pen nach dem Ende des Kalten Kriegs glob­al ver­gle­ichend zu unter­suchen. Die Medi­en­an­thro­polo­gin Brit­ta Ohm weist in ihrem Kom­men­tar zu diesen Fil­men darauf hin, dass dieses Ereig­nis inter­na­tion­al noch immer nicht als die ein­schlägige Zäsur für den Auf­stieg der recht­sex­tremen islam­o­phoben BJP wahrgenom­men wird: 

Die Zer­störung der Moschee aus dem 16. Jahrhun­dert gilt heute als der Wen­depunkt in der hin­dut­va-Bewe­gung auf dem Weg zur dominieren­den Kraft und zur Über­nahme des Staates in Indi­en. Außer­halb Indi­ens ist dieser Wen­depunkt allerd­ings immer noch kein wirk­lich­es All­ge­mein­wis­sen – im Gegen­satz zu ver­gle­ich­bar religiös motiviert­er Gewalt, zum Beispiel der Zer­störung der Bud­dha-Stat­uen in Afghanistan durch die Tal­iban. (min. 00:46- 01:09)

Themen

Das Bild zeigt einen Screenshot aus "Die Fünfte Wand". Eine Überschrift lautet "Libyen -aktuelle Situation" darunter Navina Sundaram, wie sie einen Bericht während einer Nachrichtensendung im Fernsehen vorträgt.
Fig. 3: Film­still aus Die Fün­fte Wand. Copy­right: NDR/Navina Sundaram.

Die Fün­fte Wand ist in vier Bere­iche unterteilt: Archiva­lien (Film, Foto, Text, Brief, Kom­men­tar), The­men (Medi­en, Migra­tion, Inter­na­tionale Poli­tik, Dekolonisierung, Kul­tur, Men­schen­rechte, Ras­sis­mus, Arbeitsver­hält­nisse, Gen­der, Weltwirtschaft), Senderei­hen und Pro­duk­tion­s­jahr. Texte und Briefe wer­den im Orig­i­nal abge­bildet sowie in Auszü­gen vorge­le­sen. Diese dop­pelte Funk­tion aus­gewählter Quellen ist im Übri­gen leicht zu überse­hen. Rein schwarze Kacheln auf der Web­seite ver­weisen wiederum darauf, dass ein Archiv nie voll­ständig ist. Mit jedem Aufruf der Seite ord­nen sich die The­men auf der Seite ‚Archiv‘ neu, so dass immer wieder neue Ver­flech­tun­gen buch­stäblich in den Vorder­grund rück­en. Dies ist möglich, da das Leben und die Inter­essen Nav­ina Sun­darams als lei­t­ende rote Fäden so deut­lich her­vortreten und die Kom­bi­na­tio­nen intrin­sisch (d.h. biographisch) miteinan­der ver­bun­den sind – sei es ein Porträt der indis­chen Jaz­zsän­gerin Asha Puth­li, eine Reportage über US-amerikanis­che Mis­sion­are der Bagh­wan-Bewe­gung in der BRD, eine Langzeit­be­tra­ch­tung über den Bre­mer Mörder Bodo Fries oder die Lage in Libyen. Inhaltlich drehen sich Sun­darams Beiträge häu­fig um die anhal­tende Dekolo­nial­isierung: Südafri­ka, West Sahara, Guinea-Bis­sau, Indien. 

Was aber haben „Ugan­da-Asi­at­en“ mit Deutsch­land zu tun? Sun­daram gelingt es schon damals, die welth­is­torische Bedeu­tung der Ereignisse aufzuzeigen. Umwelt­poli­tik, Exo­tismus und All­t­agsras­sis­mus sind eben­so Gegen­stand ihrer Filme. Dabei zeigt sie das allzu men­schliche Gesicht aller Seit­en. Man darf deut­lich in die Kam­era sagen, warum man keine Aus­län­der als Nach­barn haben möchte. Jede/r ste­ht und spricht für sich selb­st – nie­mand wird in ihren Fil­men bloßgestellt. Die Jour­nal­istin hat­te ein wun­der­bares Gehör für die unge­woll­ten Stil­blüten ihrer Gesprächspart­ner. Auch Doku­men­tarfilme jün­geren Datums, wie über die berühmte indis­che Kün­st­lerin Amri­ta Sher-Gil, den Sun­daram 2007 im Auf­trag von Chris Der­con für die Tate Mod­ern machte, beein­druck­en als eine Fam­i­liengeschichte der beson­deren Art.

Sun­darams The­men verblüf­fen heute, weil so viele davon eine bleibende Aktu­al­ität demon­stri­eren: Yoga und die nervöse Ablenkungskul­tur, Arbeit­skräfte­man­gel und Ein­wan­derung, Sou­veränität und die Inter­essen der ehe­ma­li­gen Kolo­nialmächte, Jour­nal­is­mus und Sendezeit, tödlich­er Hin­duna­tion­al­is­mus oder Migrationsvordergrund.

Amrita Sher-Gil blickt auf diesem schwarz-weiß Foto direkt in die Kamera. Sie trägt einen gepunkteten Sari und mehrere, wahrscheinlich goldene, Armreifen. Ihr Haar ist in der Mitte gescheitelt.
Fig. 4: Amri­ta Sher-Gil. Unknown author prob­a­bly Umrao Singh Sher-Gil (1870–1954), https://en.wikipedia.org/wiki/Amrita_Sher-Gil#/media /File:Amrita_Sher-Gil_2.jpg.

Sun­darams Beiträge weisen in allen For­mat­en höch­ste Pro­fes­sion­al­ität und Reflek­tion auf. Eine Reportage über die soge­nan­nten Ugan­da-Asi­at­en, die 1972 nach über 200 Jahren Präsenz von Idi Amin über Nacht aus dem Land gewor­fen wur­den, besticht dadurch, dass sie über ein Jahr lang die Lebenswege der Geflüchteten ab dem Auf­nah­me­lager in Eng­land begleit­et. Die Bun­desre­pub­lik bietet damals an, 1000 Men­schen aufzunehmen. Nur dreißig indis­che Fam­i­lien lan­den schließlich in Deutsch­land. In dem Film „Dar­shan Singh will in Lev­erkusen bleiben“ begleit­et Nav­ina Sun­daram die Fam­i­lien da Couh­na und Singh in ihrem neuen All­t­ag unter Fre­un­den und am Arbeit­splatz in Unna und Lev­erkusen. Mit Peter Rösch, seinem Arbeit­skol­le­gen in der Autow­erk­statt von Bay­er, fährt Dar­shan Singh mit Fam­i­lie vergnügt durch das Bild in einem knall­roten Amphi­bi­en­fahrzeug über den Rhein bei Leverkusen.

Ein Einzelbild aus der Reportage zeigt Darshan Singh in seinem roten Wagen am Ufer des Rheins. Links neben dem Auto steht eine Frau (vielleicht Sundaram) und einige Kinder. Hinten im Wagen filmt ein Kameramann das Geschehen.
Fig. 5: Film­still aus Die Fün­fte Wand. Copy­right: NDR/Navina Sundaram.

Bei Hel­mut Kohl beschw­ert sich Singh über die Zweiz­im­mer­woh­nung, die ihm für sieben Per­so­n­en zugewiesen wurde. Kohl kam vor­bei und Singh bekam ein Zim­mer mehr. Sun­daram zeigt Migra­tionswis­sen (s. Zloch 2021) avant la let­tre.

Ein Screenshot aus "Die Fünfte Wand" mit der Überschrift "Frauenherrschaft - wie gewonnen..." Darunter ein Einzelbild aus dem "Internationalen Frühschoppen. Sundaram sitzt mittig zwischen zwei älteren Herren und raucht eine Zigarette; alle drei trinken Wein.
Fig. 6: Der Inter­na­tionale Früh­schop­pen. Film­still aus Die Fün­fte Wand. Copy­right: WDR/Navina Sundaram

Im Inter­na­tionalen Früh­schop­pen bei Wern­er Höfer analysiert sie mit ihren Kol­legin­nen Car­o­la Stern und Roshan Dhun­jib­hoy das Ver­sagen der sozial­is­tis­chen Politiker:innen in Südasien: „Solange wir auf der Trom­mel des Sozial­is­mus spie­len, kön­nen wir nie abgewählt wer­den, sagte ein – abge-wählter – Abge­ord­neter der indis­chen Kon­gress­partei. Er hat sich geir­rt.“, so Sun­daram. „Und das kam auch daher, weil Indi­ra Gand­hi anstatt die Armut zu bekämpfen, die Armen bekämpft hat.“

Ein weit­eres The­ma, das sich lohnt heute wieder anzuschauen, sind ihre Reporta­gen über die abziehen­den Kolo­nialmächte und ihre doch fort­dauernde lokale Ver­strick­ung. Hen­ry Kissinger und Lê Đức Thọ erhiel­ten 1973 gemein­sam den Frieden­sno­bel­preis für ein Waf­fen­still­stands- und Abzugsabkom­men mit Nord­viet­nam, das zum Zeit­punkt der Ver­lei­hung noch nicht ein­mal in Kraft getreten war. Bei­de zogen es vor, nicht per­sön­lich zu der Zer­e­monie zu erscheinen.

Ein Sendemitschnitt fehlt auf unerk­lär­liche Weise im Archiv des NDR: Nav­ina Sun­daram berichtet 1983 für Panora­ma über den Fall von Kemal Altun, einem Stu­den­ten, dessen Asy­lantrag bewil­ligt wurde, der jedoch gle­ichzeit­ig über vierzehn Monate in Aus­liefer­ung­shaft fest­ge­hal­ten wurde und in die Türkei abgeschoben wer­den sollte. Das Bun­desin­nen­min­is­teri­um klagte damals gegen das Bun­de­samt für Asyl vor dem Berlin­er Ver­wal­tungs­gericht. Während der Ver­hand­lung öffnete Altun ein Fen­ster im sech­sten Stock des Oberver­wal­tungs­gerichts Berlin und beg­ing Selb­st­mord. Sun­darams Filmteam kommt tags drauf in die uner­wartete Lage, der Mut­ter diese Nachricht in ihrer Pri­vat­woh­nung zu über­brin­gen. Im Anschluss an ihre Berichter­stat­tung führt Panora­ma-Chef Peter Gat­ter ein Stu­dio­gespräch mit Nav­ina Sun­daram zur Einord­nung des Beitrags. Diese Aus­gabe von Panora­ma fehlt heute, ent­ge­gen allen Auf­be­wahrungsvorschriften des Senders. Der Rund­funkrat des NDR rügt die Redak­tion später für das Weit­er­fil­men, während der Mut­ter die Nachricht über den Tod ihres Sohnes über­bracht wird. Nav­ina Sun­daram weist in einem der neu einge­spiel­ten Kom­mentare des Archivs darauf hin, das ver­gle­ich­bar exis­ten­tielle Sit­u­a­tio­nen in der soge­nan­nten Drit­ten Welt dur­chaus gefilmt wer­den, aber die Verzwei­flung ein­er Mut­ter in Berlin nicht abge­bildet wer­den dürfe. Sun­daram wirft hier ethis­che Fra­gen aus ein­er de-kolo­nialen Per­spek­tive auf, die kaum oder erst sehr spät in hiesige Medi­en­de­bat­ten Ein­gang gehal­ten haben. 

First class immigrant

Rauf- und run­tergeleiert auf der Emo­tion­sskala habe ich das garstige Lied von Gegen­sätzen, die vielle­icht keine waren, auf jeden Fall für mich keine mehr sind: Insider/Outsider, Binnensicht/Außensicht, Stere­osicht, Inklusion/Exklusion, fremd in der Heimat, heimisch in der Fremde. Befrem­dung, Ent­frem­dung, Ver­frem­dung, wurzel­los und frei, ver­wurzelt und ver­wurschtelt, homogen/hybrid, authentisch/künstlich, Einfalt/Vielfalt, Singularität/Diversität, Dop­pelper­spek­tive, Gren­zen gren­zen­los ver­wis­cht. (Sun­daram 2008: 27)

Während der Sari für Sun­daram zunächst noch Authen­tiz­ität in Ham­burg und beim NDR bedeuten sollte, wollte sie sich als­bald durch die Klei­dung nicht weit­er exponieren: 

Ich wollte ja dazuge­hören; ich hat­te den Spruch satt: ‚Nun wollen wir es aus ‚anderen Augen’ betra­chtet sehen.‘ Ich wollte aus dieser geisti­gen Ghet­toisierung her­aus. Raus aus der Mar­gin­al­isierung, rein in den Main­stream. Das, was ich als nor­mal emp­fand, wurde zum Exo­tis­chen erk­lärt und umgekehrt. (Sun­daram 2008: 29)

Ein schwarz-weiß Foto, das Sundaram und Bode auf Stühlen sitzend beim Genuss von Wein und Zigaretten zeigt. Sundaram trägt einen Sari, Bode ein weißes Jacket mit dunkler Fliege.
Fig. 7: Mit dem Jour­nal­is­ten und langjähri­gen Presseat­taché an der deutschen Botschaft in Del­hi Thi­lo Bode 1973 in Uhldin­gen. Copy­right: Die Fün­fte Wand/Navina Sun­daram. 

Die Regis­seurin hat viel zur sub­ku­ta­nen Aufk­lärung in der BRD beige­tra­gen – viel, gemessen daran, was man in einem Men­schen­leben schaf­fen kann. Anlässlich des Starts der deutschen Web­seite Die Fün­fte Wand 2021 erfuhr Nav­ina Sun­darams Lebensweg ver­stärk­te Aufmerk­samkeit in den deutschen Medi­en. Wie viel in ihrem Leben doch zusam­mengekom­men war, erstaunte sie selb­st, wie sie in ihrem let­zten Inter­view drei Monate vor ihrem Tod im April 2022 im Deutsch­land­funk erk­lärte. Bleiben oder gehen, ein­passen oder her­vorstechen?, diese Fra­gen ver­fol­gten die indis­che Hanseatin Zeit ihres Lebens. „‚Schön­er ist es ander­swo, denn hier bin ich sowieso‘ – tre­f­fend­er als Wil­helm Busch hätte ich es auch nicht sagen kön­nen“, sagt Nav­ina Sun­daram (2008: 35). 

Ihr dig­i­tales Archiv bietet Quellen für eine Vielfalt von kul­tur­wis­senschaftlichen Fragestel­lun­gen und Forschungsan­sätzen. Die Biografie der Jour­nal­istin reflek­tiert die viel­er Intellek­tueller, die in der zweit­en Hälfte des 20. Jahrhun­derts in die BRD kamen und deren Ver­di­en­ste kaum präsent sind in der öffentlichen Wahrnehmung und Forschung. Stephanie Zloch schreibt 2021 dazu: „Die enge Zusam­men­führung von Migra­tion und Wis­sen, gar in der begrif­flichen Prä­gung ‚Migra­tionswis­sen‘, war bis vor Kurzem kaum vorstell­bar.“ Zwar stellt Zloch fest, dass die Exil­forschung ihren Blick bevorzugt auf Intellek­tuelle und Kun­stschaf­fende richte (2021: 33), scheint mit ‚Intellek­tuellen‘ aber eher kreative-kün­st­lerische Berufe zu meinen, denn die Leis­tun­gen von migri­erten Mediziner:innen oder Lebens- und Naturwissenschaftler­:innen haben wohl erst mit den Lebenswe­gen von Uğur Şahin und Özlem Türe­ci, Gründer:innen der Fir­ma BioN­tech, die den Impf­stoff Comir­naty gegen die Infek­tion­skrankheit COVID-19 entwick­elte, bre­it­ere Aufmerk­samkeit erfahren. „Unter Migra­tio­nen wer­den räum­liche Ver­lagerun­gen des Lebens­mit­telpunk­tes ver­standen, die mit der biografis­chen Erfahrung von Unter­wegs-Sein und der Wahrnehmung von Dif­ferenz ein­herge­hen“, so Zloch (2021: 34). Diese Wahrnehmung von Dif­ferenz und die Anpas­sungsleis­tung von Migranten ist kaum konzep­tionell gefasst und diese Lücke kann der Begriff des Migra­tionswis­sens füllen.

Nav­ina Sun­daram hat sich selb­st als „first class immi­grant“ beze­ich­net. Aber auch der „Immi­grant erster Klasse“ bringt erhöhte Aufmerk­samkeit bezüglich Aus­gren­zung, dop­pel­ter Stan­dards, Ras­sis­mus und Ungerechtigkeit mit. In ein­er Reflex­ion über die Heimat in der Fremde schrieb sie: „Das Leben, die Arbeit in Deutsch­land, waren für mich zugle­ich unendlich leicht und unendlich schw­er“ (2008: 9) – eine Sen­tenz, die das Leben des migri­eren­den Bil­dungs­bürg­er­tums aus Asien, Afri­ka und Lateinameri­ka nach Europa auch heute kaum bess­er beschreiben kann. In einem Inter­view mit Salman Rushdie von 1984, das eben­falls im Archiv zu sehen ist, sagt Rushdie über den

Emi­granten-Intellek­tuellen: ‚Dass unsere physis­che Ent­frem­dung von Indi­en fast zwangsweise bedeutet, dass es uns nicht gelin­gen wird, haar­ge­nau das zurück­zugewin­nen, was wir ver­loren haben; dass wir, kurz gesagt, Fik­tio­nen erschaf­fen, nicht tat­säch­liche Städte oder Dör­fer, son­dern unsicht­bare, imag­inäre Heimatlän­der, ein jed­er sein ganz per­sön­lich­es Indi­en der Phan­tasie.‘ (zit. n. Sun­daram 2008: 30)

Assim­i­la­tion galt ihr, wie vie­len ihrer Gen­er­a­tion, als wichtiges Ele­ment von Inte­gra­tion. Die Frage ein­er Rück­kehr in das Geburt­s­land wurde immer wieder auf- und ver­wor­fen und die Frage, die deutsche Staats­bürg­er­schaft anzunehmen, eben­so lange umkreist. In der immer näher rück­enden Europäis­chen Union waren es u.a. auch die stets schwierige Visums­beschaf­fung vor jed­er Reise ins Aus­land und die damit ver­bun­dene – anhal­tende – Beschränkung der Bewe­gungs- und Reise­frei­heit, die sie und andere let­z­tendlich zu diesem Schritt bewegte. Noch bleibt die Geschichte dieses Milieus von Ein­wan­der­ern in Deutsch­land schemenhaft.

Ein altes Farbfoto zeigt Navina Sundaram an einem sonnigen Tag stehend vor einigen Förderbändern. Ihr Haar ist in der Mitte gescheitelt und sie lächelt. Sie trägt eine rote Bluse, eine beige Jacke, und eine dunkle Hose. In der rechten Hand hält sie ein Mikrofon, in der linken ihre Notizen.
Fig. 8: Spaniens Abzug aus der West­sa­hara, Tagess­chau 1976, Film­still aus Die Fün­fte Wand. Copy­right: ARD/Navina Sundaram.

***

Dies ist eine erweit­erte sowie stark über­ar­beit­ete Fas­sung des Beitrags Hegasy, Son­ja, „Raus aus der Mar­gin­al­isierung, rein in den Main­stream.“ Erin­nerung an die deutsch-indis­che Jour­nal­istin Nav­ina Sun­daram, Qantara.de, 18.04.2023, https://de.qantara.de/ node/49788.

Literaturverzeichnis

Archive außer sich. „Archive außer sich.“ o. D. http://www.archive-ausser-sich.de/de [let­zter Zugriff 23.08.2023].

Bernien, Mareike; Dut­ta, Mad­hus­ree; Kroeger, Mer­le; Schnei­der, Alexan­dra. 2023. „Action-based Archivism: A Con­ver­sa­tion with Mareike Bernien, Mad­hus­ree Dut­ta and Mer­le Kroeger.“ In: Vinzenz Hedi­ger, Ste­fanie Schulte-Strathaus, Acci­den­tal Archivism: Shap­ing Cinema’s Futures with Rem­nants of the Past. Lüneb­urg: meson press. Ver­füg­bar unter: https://archivism.meson.press/chapters/new-archival-spaces-and-places-of-cinema/action-based-archivism-a-conversation-with-mareike-bernien-madhusree-dutta-and-merle-kroeger/  [let­zter Zugriff 23.08.2023].

Deutsch­land­funk. 2022. „Jede Art von Diver­sität ist ein Vorteil.“ 16. Jan­u­ar,  https://‌www.‌deutschland‌funk.de‌/‌‌jede-art-von-diversitaet-ist-ein-vorteil-9f17952f-0cdd-4cf‌4‑b04e-52e4b744e-d47b39e3-100.html [let­zter Zugriff 23.08.2023].

Hegazy, Ahmed M. Blick zwis­chen zwei Kul­turen. Lev­erkusen, o.D. Unveröf­fentlicht­es Manuskript.

Pong. „Wer ist pong?“ o. D. https://merlekroeger.de/de/5/who-pong [let­zter Zugriff 23.08.2023]

Mar­tin, Staci B.; Dan­dekar, Deep­ra. 2022. Glob­al South Schol­ars in the West­ern Acad­e­my. Har­ness­ing Unique Expe­ri­ences, Knowl­edges, and Posi­tion­al­i­ty in the Third Space. New York: Routledge.

Sun­daram, Nav­ina. 2005. „An Outsider’s inside view or an Insider’s out­side view – India on Ger­man TV 1957–2005.“ In: Ange­li­ka Fitz, Mer­le Kröger, Alexan­dra Schnei­der, Dorothee Wen­ner (Hg.) Import Export. Wege des Kul­tur­trans­fers zwis­chen Indi­en und Deutschland/Österreich. Berlin: Parthas Ver­lag, S. 19–27.

Sun­daram, Nav­ina. 2008. „Grüb­lerisches zum The­ma ‚Heimat in der Fremde‘.“ In: Heimat in der Fremde — Migra­tions­geschicht­en von Men­schen aus Indi­en in Deutsch­land. Meine Welt (Hg.). Hei­del­berg: Drau­pa­di Ver­lag, S. 25–36. Ver­füg­bar unter: http://www.urmila.de/DesisinD/‌Forschung/‌HeimatinderFremde.pdf  [let­zter Zugriff 23.08.2023].

Zloch, Stephanie. 2021. „Migra­tionswis­sen Das Beispiel der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land aus zei­this­torisch­er Sicht.“ Aus Poli­tik und Zeit­geschichte, Nr. 03–04, S. 33–38. Ver­füg­bar unter: https://www.bpb.de/‌shop/zeitschriften/apuz/wissen-2021/325611/migrationswissen/ [let­zter Zugriff 23.08.2023].

Son­ja Hegasy, Leib­niz-Zen­trum Mod­ern­er Ori­ent, Berlin

MIDA Archival Reflex­i­con

Edi­tors: Anan­di­ta Baj­pai, Heike Liebau
Lay­out: Mon­ja Hof­mann, Nico Putz
Host: ZMO, Kirch­weg 33, 14129 Berlin
Con­tact: archival.reflexicon [at] zmo.de

ISSN 2628–5029