Projektverantwortlicher: Dr. Martin Christof-Füchsle
Leitung: Prof. Dr. Ravi Ahuja
Projektstatus: laufend
Das Gesamtprojekt leistet einen Beitrag zur Erforschung geistesgeschichtlicher Verflechtungsprozesse zwischen Indien und Deutschland. Der Bearbeiter wird die Entwicklungen im Deutschen Reich nach 1871 bis zum Ende der Weimarer Republik in den Blick nehmen. Um 1920 ist einerseits eine allgemeine Faszination der deutschen Öffentlichkeit für Indien zu konstatieren. Andrerseits finden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts über die Rezeption des Buddhismus sowie die theosophische Bewegung indische Konzepte wie die Lehre von karma und Wiedergeburt oder Praktiken wie yoga ihren Weg in soziale und kulturelle Bewegungen der Lebensreform. Bei den dabei produzierten Indienbildern wird der Einfluss nicht nur prominenter Vertreter der indischen Kultur in Deutschland (etwa Rabindranath Tagore), sondern auch weniger bekannter Inder und deren Interaktion mit deutschen Gelehrten, Intellektuellen und Künstlern in unterschiedlichen Bereichen deutlich. Unter Berücksichtigung der Rezeption deutscher Vorstellungen von Indien und vor allem auch der in Britisch-Indien entstehenden Diskurse soll die Reflexivität des Austausches in den Blick genommen und Prozesse und Praktiken gegenseitiger Interpretationen, Aneignungen und Bereicherungen analysiert werden, um so herkömmliche Bilder von Orient und Okzident zu überwinden.
Als Quellen sind einerseits Publikationen der Indologen dieser Zeit zu betrachten, vor allem solche, die für ein breiteres Publikum geschrieben wurden. Für den Bereich des Buddhismus, der theosophischen Bewegung sowie der unterschiedlichen Gruppierungen im lebensreformerischen Spektrum wird publiziertes Material konsultiert, vor allem Zeitschriften, die wichtige Medien der Diskussion waren. Darüber hinaus sind die Nachlässe von Protagonisten wie etwa der umfangreiche Nachlass Wilhelm Hübbe-Schleidens in der Handschriftenabteilung der Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Göttingen relevant. In verschiedenen Spezialarchiven, wie dem Archiv der deutschen Jugendbewegung, aber auch in Staats- und städtischen Archiven findet sich weiteres Material. Die Sichtweise der etablierten christlichen Religionsgemeinschaften auf die Konkurrenz in Form von neuen Religionen oder Reformbewegungen findet sich in deren Archiven, wie etwa dem Bestand der Apologetischen Centrale im Archiv des Diakonischen Werks, Berlin.
Das Projekt bietet die Möglichkeit, Archivmaterialien für MIDA zu lokalisieren und zu erschließen, die sich auf die Indienrezeption von Lebensreform‑, Jugendbewegung, Buddhismus und Theosophie beziehen. Darüber hinaus kann es über eine Vielzahl involvierter Protagonisten zeigen, dass der intellektuelle Austausch keine einseitige Angelegenheit war, die nur in der Rezeption und Interpretation indischen Gedankenguts durch Deutsche bestanden hätte. Vielmehr wurden diese Interpretationen von indischen Intellektuellen hinterfragt. Im Fall von Swami Vivekananda z.B. ist einerseits zu betrachten, inwiefern seine Vorstellungen von Vedanta und Reformhinduismus durch den Dialog mit Paul Deussen, dem Indologen und Philosophen, mitbeeinflusst sind; andrerseits wirkt Vivekananda mit seinen populären Werken zum Yoga prägend für die westliche, auch deutsche Rezeption dieser Tradition. So lässt sich aufzeigen, dass der Austausch ein interkulturell dialogischer war, der auch durch die Handlungs- und Deutungsmacht der indischen Partner gekennzeichnet ist.
Aktuelles Forschungsvorhaben:
Okkultismus, Theosophie und ‚Vernunftreligion‘ – indisch-deutsche Verflechtungen und religiöse Strömungen im Kaiserreich (1871–1918).
Zentrales Thema des aktuellen Forschungsvorhabens ist die Entwicklung der Theosophie in Deutschland, die einerseits Affinitäten zu westlichem Okkultismus, Spiritismus und Esoterik aufweist, andererseits aber zu einem wichtigen Medium der Verbreitung indischer religiöser Konzepte wie der Lehre von karma und Wiedergeburt wird. Auch die beginnende Rezeption von Yoga als Philosophie und Praxis im Kaiserreich findet wesentlich im Umfeld der theosophischen Bewegung statt. Schließlich ist auch die verstärkte Rezeption des Buddhismus im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts sowie die Etablierung erster buddhistischer Vereine und Gemeinschaften zwischen Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg unter anderem im Zusammenhang mit der Popularisierung des Buddhismus durch die erste Generation der theosophischen Leitfiguren (bes. Henry Steel Olcott mit „Buddhist Catechism“) zu sehen. Darüber hinaus bestanden, zum Beispiel im Verlagswesen, zumindest anfänglich organisatorische Verbindungen zwischen deutschen Theosophen und Buddhisten, während es in der Folge zu Abgrenzungsbestrebungen kam.
Bei der Analyse der komplexen spirituell-religiösen Entwicklungen konzentriert sich der Bearbeiter auf Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846–1916), früher Kolonialagitator, Afrika- und Indienreisender sowie Yogapraktiker. Als wichtige Figur in der Geschichte der deutschen Theosophie verfügte er einerseits über Kontakte sowohl zum deutschen Okkultismus als auch zum völkischen und vor allem auch kolonialapologetischen Milieu. Andererseits hatte er, besonders nach seinem Indienaufenthalt 1894–1896, neben der Einbindung in die Kreise indischer Theosophen auch Kontakte zu Hindu-Reformern, Propagandisten einer Wiederbelebung des Buddhismus in Indien sowie zu brahmanischen Gurus und Intellektuellen. Abgesehen von seinen umfangreichen Publikationen zur Theosophie in Zeitschriftenbeiträgen und Monographien sowie landeskundlichen Darstellungen (Indien und die Indier, 1898), ist sein umfangreicher Nachlass mit Korrespondenz, Tagebüchern und unveröffentlichten Manuskripten, der sich in der Handschriftenabteilung der SUB Göttingen befindet, von besonderer Wichtigkeit. Aufgrund dieser Quellen ergibt sich das Bild einer facettenreichen Gestalt in einem transnationalen Netzwerk geistesgeschichtlicher Beziehungen, die den Ausgangspunkt für die Darstellung der religiös-spirituellen Entwicklungen im Kaiserreich in ihrer Verflechtung mit indischen Konzepten und Akteuren bilden soll.
Ziel ist es, über die Rekonstruktion der jeweiligen Vorstellungen des Anderen, also deutsche Orient- sowie indische Okzident-Bilder, hinauszugehen. Stattdessen sollen indische Stimmen bzw. soll die Rolle indischer Akteure bei der Gestaltung der verschränkten Diskurse von Yoga, Theosophie und Buddhismus deutlich gemacht werden. Diese Herangehensweise will die Fokussierung auf die deutschen Indienbilder, wie sie etwa Perry Myers Monographie, German Visions of India, 1871–1918: Commandeering the Holy Ganges during the Kaiserreich, kennzeichnet, inhaltlich und konzeptionell überwinden. Es geht darum zu zeigen, dass es jenseits der damals gängigen Bilder von „East and West“ interkulturelle Kontakte gab, die auf gegenseitiger Wahrnehmung beruhten und die über die reine Rezeption und Inwertsetzung des jeweiligen Stereotypen von okzidentaler Rationalität und orientalischer Spiritualität hinausgingen.