By Sonja Hegasy
Published in 2023
DOI 10.25360/01–2023-00039
Foto: Navina Sundaram.
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Lebenslauf | Themen | First class immigrant | Literaturverzeichnis
„Navina Sundaram ist eine der bedeutendsten und zugleich am wenigsten anerkannten Dokumentarfilm-Regisseur:innen in Deutschland der letzten fünfzig Jahre – in der Qualität ihrer Arbeit vergleichbar mit [Harun] Farocki und [Klaus] Wildenhahn“, so der Filmwissenschaftler Vinzenz Hediger anlässlich der Premiere der englischen Fassung ihrer digitalen Werkbiographie Die Fünfte Wand am 1. April 2023 in Delhi zwei Jahre nach dem Launch der deutschen Seite. Die Fünfte Wand stellt das Werk der deutsch-indischen Journalistin Navina Sundaram aus Archiven der ARD sowie aus ihrem Privatarchiv vor. Ihre Dokumentarfilme sind hier erstmals online in voller Länge verfügbar. „Ihre Filme waren präsent, aber dann wurden sie – wie so viel Frauenarbeit – aus der Filmgeschichte herausgeschwiegen“, führte Hediger aus (Emailwechsel 16. Juni 2023). Unvermutet entstand mit der Fünften Wand eine Kulturgeschichte des „anderen Deutschlands“ in der BRD, aber auch der multiplen deutsch-indischen Verflechtungen, die selten so konzentriert wie in dem Werk dieser Grenzgängerin hervortreten. Ein breiter Resonanzraum deutsch-indischer Migrationsgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert wird mit Sundarams Leben und Lebenswerk exemplarisch vorgestellt.
Von 1964 bis 2003 war Navina Sundaram politische Fernsehredakteurin beim Norddeutschen Rundfunk (NDR). Die Webseite „Die Fünfte Wand – Innenansichten einer Außenseiterin oder Außenansichten einer Innenseiterin“ (https://die-fuenfte-wand.de/de) versammelt knapp 70 Filme sowie Reportagen, Fotos, Briefe an ihre Eltern und Texte von ihr. Die meisten Filme haben ein 30- bis 45-minütiges Format. Die Nutzungsrechte wurden dem NDR in zähen Lizenzverhandlungen abgerungen. Hinzu kommen auf dieser audiovisuellen Plattform eine Auswahl von Texten über die Journalistin aus der Zeit zwischen 1964 und 1993 sowie neu eingespielte Videos mit Kommentaren bekannter Medienschaffender in Deutschland wie Dorothee Wenner oder Philip Scheffner und Wissenschaftler:innen wie Urmila Goel und Britta Ohm. Seit 2018 arbeiteten Merle Kröger und Mareike Bernien von der Produktionsfirma pong film zusammen mit Navina Sundaram an der Erstellung des digitalen Archivs. Pong kuratierte die Sammlung im Rahmen der Initiative Archive außer sich des Berliner Arsenal – Institut für Film und Videokunst.
2022 wurde Die Fünfte Wand für den Grimme Online Award nominiert. Man fragt sich, warum die öffentlich-rechtlichen Sender nicht selbst ein Archiv mit historischen Aufnahmen aufbauen? Die Kuratorinnen dazu in einem Gespräch mit Alexandra Schneider:
[T]his is also why we call our project a door opener: to actually open the archives of public television and extract a specific collection to highlight a view, which might otherwise disappear. In that sense, our archive or collection is actually an extraction of a much bigger and institutionalized archive. This is the first gap or the first lack we were confronted with. (Bernien et al. 2023)
Der Titel des Archivs verweist auf einen Brief Sundarams an ihre Eltern vom 21.7.1969 anlässlich der Mondlandung, in dem sie den Fernsehbildschirm als „fünfte Wand“ bezeichnet: „Heute Nacht, wenn die zwei Astronauten auf dem Mond landen, werden Millionen von Fernsehzuschauern sie beobachten, und im Grunde ist es genauso weit weg wie Vietnam, auf der anderen Wohnzimmerseite: die fünfte Wand.“ Auch der Untertitel „Innenansichten einer Außenseiterin oder Außenansichten einer Innenseiterin“ stammt von Sundaram selbst, aus einer Studie über Indien im Deutschen Fernsehen zwischen 1957 und 2005 (Sundaram 2005). Allein der Initiative von Navina Sundarams Bruder, dem berühmten Künstler Vivan Sundaram ist es zu verdanken, dass fast alle Filme mit englischen Untertiteln zur Verfügung stehen und somit sowohl der indischen als auch einer globalen Öffentlichkeit zugänglich sind. Vivan Sundaram verstarb zwei Tage vor der englischen Premiere in Delhi. Das Goethe-Institut New Delhi hatte die Finanzierung der Übersetzung durch Rubaica Jaliwala übernommen.
Die Kuratorinnen sehen Die Fünfte Wand „als Modell einer zukünftigen Archivpraxis“, die das Archiv „als Raum, der (Medien)-Geschichte [und] nicht als Herrschaftsnarrativ abbildet, sondern als Geflecht verschiedenster – auch widersprüchlicher – historischer Erzählungen, die Resonanzen in der jeweiligen Gegenwart erzeugen.“ Die Macherinnen betonen den verflochtenen, dynamischen Charakter der Sammlung durch ausgiebige Verknüpfungshinweise unter vielen Dokumenten und durch einen Workspace, der wiederrum nachfolgende Auseinandersetzungen mit der Fünften Wand dokumentiert und Nutzer:innen zur Verfügung stellt. Die Kuratorinnen laden dazu ein, ihnen weiterführende Recherchepfade und Bildungsangebote mitzuteilen:
Dies können beispielsweise thematische Filmreihen, medienhistorische oder migrationspolitische Fragestellungen, Forschungsansätze und ‑ergebnisse, journalistische und archivpraktische Übungen, Kommentare zu einzelnen Werken oder Werkgruppen, weiterführendes Material, Veranstaltungshin-weise oder relevante Links zu anderen Webseiten sein.
Das Archiv lebt und wird ergänzend gefüllt. Im April 2023 wurde Die Fünfte Wand zum ersten Mal als begehbares Archiv in Hamburg gezeigt. 2024 wandert diese Ausstellung voraussichtlich nach Berlin.
Lebenslauf
Zum beruflichen Werdegang von Navina Sundaram: Von 1964 bis 2003 war sie Redakteurin beim NDR und Auslandskorrespondentin für die ARD. Geboren 1945 in einer gutbürgerlichen Familie aus Shimla, der ehemaligen Sommerhauptstadt der Briten am Fuße des Himalaya Gebirges, lernte sie Anfang der sechziger Jahre den Asien-Korrespondenten der ARD, Hans Walter Berg, kennen. Ab 1963 moderierte Navina Sundaram seine Sendung Asiatische Miniaturen.
Für ihre ersten Beiträge lernte sie Deutsch onomatopoetisch auswendig. Mit 19 Jahren ging Sundaram für ein Volontariat zum NDR nach Hamburg und moderierte ab 1970 unter anderem den Weltspiegel, extra 3, Panorama sowie verschiedene Brennpunkte. Über das Ausland mit derselben Differenziertheit zu berichten wie über das Inland – von diesem Anspruch zeugt ihre Arbeit; auch wenn einige Kollegen fanden, über eine bundesdeutsche Landtagswahl solle sie besser nicht berichten – die Zuschauer würden ihr die Kompetenz dazu absprechen:
Hauptsache, ich war nicht zu sehen. Das Exotische, die Andere, sollte sichtlich nicht zum Alltag werden! Ein Kollege wurde immer ganz konfus, wenn ich in meinen Moderationen von ‚uns‘ sprach. Er wusste nie, ob ich damit uns Inder oder uns Deutsche meinte, und das bereitete ihm Kopfschmerzen. Die indische Kunsthistorikerin Geeta Kapur nennt so etwas die ‚symmetrische Hierarchie von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, die wie eine Wippschaukel funktioniert.‘ (Sundaram 2008: 30)
Unter anderem die Zunahme gewaltsamer Übergriffe auf Asylbewerber und Einwanderer im Zuge der Vereinigung beider deutscher Staaten 1990 bewog Navina Sundaram dazu, die Stelle der Leiterin des ARD-Fernsehstudios Südasien in Neu-Delhi anzunehmen. Hier musste sie sogleich über die Zerstörung der 500 Jahre alten Babri-Moschee in Ayodhya durch Anhänger der rechtsextremen Organisationen Vishva Hindu Parishad und Bharatiya Janata Party (BJP) berichten. Ihr Kamerateam wurde dabei tätlich angegriffen. Mehrere Quellen aus dieser Zeit sind im Archiv vorhanden. Navina Sundaram reflektiert dieses Zusammenfallen faschistoider Ausschreitungen kritisch und nimmt 2018 mit Merle Kröger zwei Kommentare zu den Dreharbeiten in Ayodhya für Die Fünfte Wand unter dem Titel „1992 – Von Hoyerswerda nach Ayodhya“ auf. Die Filmemacherin ist auch 2018 noch sichtlich mitgenommen von der erlebten Gewalt, und den fanatisierten Massen, die die Moschee in wenigen Stunden in einen Schutthaufen verwandelt hatten. Der transnationale Charakter ihrer Arbeiten wird hier auf der Ebene der Quellen und der Kommentare sehr deutlich. Sundarams eigene Einordnung ‚Hoyerswerda/Ayodhya‘ bietet einen Ansatz, den Aufstieg populistischer und rechtsextremer Gruppen nach dem Ende des Kalten Kriegs global vergleichend zu untersuchen. Die Medienanthropologin Britta Ohm weist in ihrem Kommentar zu diesen Filmen darauf hin, dass dieses Ereignis international noch immer nicht als die einschlägige Zäsur für den Aufstieg der rechtsextremen islamophoben BJP wahrgenommen wird:
Die Zerstörung der Moschee aus dem 16. Jahrhundert gilt heute als der Wendepunkt in der hindutva-Bewegung auf dem Weg zur dominierenden Kraft und zur Übernahme des Staates in Indien. Außerhalb Indiens ist dieser Wendepunkt allerdings immer noch kein wirkliches Allgemeinwissen – im Gegensatz zu vergleichbar religiös motivierter Gewalt, zum Beispiel der Zerstörung der Buddha-Statuen in Afghanistan durch die Taliban. (min. 00:46- 01:09)
Themen
Die Fünfte Wand ist in vier Bereiche unterteilt: Archivalien (Film, Foto, Text, Brief, Kommentar), Themen (Medien, Migration, Internationale Politik, Dekolonisierung, Kultur, Menschenrechte, Rassismus, Arbeitsverhältnisse, Gender, Weltwirtschaft), Sendereihen und Produktionsjahr. Texte und Briefe werden im Original abgebildet sowie in Auszügen vorgelesen. Diese doppelte Funktion ausgewählter Quellen ist im Übrigen leicht zu übersehen. Rein schwarze Kacheln auf der Webseite verweisen wiederum darauf, dass ein Archiv nie vollständig ist. Mit jedem Aufruf der Seite ordnen sich die Themen auf der Seite ‚Archiv‘ neu, so dass immer wieder neue Verflechtungen buchstäblich in den Vordergrund rücken. Dies ist möglich, da das Leben und die Interessen Navina Sundarams als leitende rote Fäden so deutlich hervortreten und die Kombinationen intrinsisch (d.h. biographisch) miteinander verbunden sind – sei es ein Porträt der indischen Jazzsängerin Asha Puthli, eine Reportage über US-amerikanische Missionare der Baghwan-Bewegung in der BRD, eine Langzeitbetrachtung über den Bremer Mörder Bodo Fries oder die Lage in Libyen. Inhaltlich drehen sich Sundarams Beiträge häufig um die anhaltende Dekolonialisierung: Südafrika, West Sahara, Guinea-Bissau, Indien.
Was aber haben „Uganda-Asiaten“ mit Deutschland zu tun? Sundaram gelingt es schon damals, die welthistorische Bedeutung der Ereignisse aufzuzeigen. Umweltpolitik, Exotismus und Alltagsrassismus sind ebenso Gegenstand ihrer Filme. Dabei zeigt sie das allzu menschliche Gesicht aller Seiten. Man darf deutlich in die Kamera sagen, warum man keine Ausländer als Nachbarn haben möchte. Jede/r steht und spricht für sich selbst – niemand wird in ihren Filmen bloßgestellt. Die Journalistin hatte ein wunderbares Gehör für die ungewollten Stilblüten ihrer Gesprächspartner. Auch Dokumentarfilme jüngeren Datums, wie über die berühmte indische Künstlerin Amrita Sher-Gil, den Sundaram 2007 im Auftrag von Chris Dercon für die Tate Modern machte, beeindrucken als eine Familiengeschichte der besonderen Art.
Sundarams Themen verblüffen heute, weil so viele davon eine bleibende Aktualität demonstrieren: Yoga und die nervöse Ablenkungskultur, Arbeitskräftemangel und Einwanderung, Souveränität und die Interessen der ehemaligen Kolonialmächte, Journalismus und Sendezeit, tödlicher Hindunationalismus oder Migrationsvordergrund.
Sundarams Beiträge weisen in allen Formaten höchste Professionalität und Reflektion auf. Eine Reportage über die sogenannten Uganda-Asiaten, die 1972 nach über 200 Jahren Präsenz von Idi Amin über Nacht aus dem Land geworfen wurden, besticht dadurch, dass sie über ein Jahr lang die Lebenswege der Geflüchteten ab dem Aufnahmelager in England begleitet. Die Bundesrepublik bietet damals an, 1000 Menschen aufzunehmen. Nur dreißig indische Familien landen schließlich in Deutschland. In dem Film „Darshan Singh will in Leverkusen bleiben“ begleitet Navina Sundaram die Familien da Couhna und Singh in ihrem neuen Alltag unter Freunden und am Arbeitsplatz in Unna und Leverkusen. Mit Peter Rösch, seinem Arbeitskollegen in der Autowerkstatt von Bayer, fährt Darshan Singh mit Familie vergnügt durch das Bild in einem knallroten Amphibienfahrzeug über den Rhein bei Leverkusen.
Bei Helmut Kohl beschwert sich Singh über die Zweizimmerwohnung, die ihm für sieben Personen zugewiesen wurde. Kohl kam vorbei und Singh bekam ein Zimmer mehr. Sundaram zeigt Migrationswissen (s. Zloch 2021) avant la lettre.
Im Internationalen Frühschoppen bei Werner Höfer analysiert sie mit ihren Kolleginnen Carola Stern und Roshan Dhunjibhoy das Versagen der sozialistischen Politiker:innen in Südasien: „Solange wir auf der Trommel des Sozialismus spielen, können wir nie abgewählt werden, sagte ein – abge-wählter – Abgeordneter der indischen Kongresspartei. Er hat sich geirrt.“, so Sundaram. „Und das kam auch daher, weil Indira Gandhi anstatt die Armut zu bekämpfen, die Armen bekämpft hat.“
Ein weiteres Thema, das sich lohnt heute wieder anzuschauen, sind ihre Reportagen über die abziehenden Kolonialmächte und ihre doch fortdauernde lokale Verstrickung. Henry Kissinger und Lê Đức Thọ erhielten 1973 gemeinsam den Friedensnobelpreis für ein Waffenstillstands- und Abzugsabkommen mit Nordvietnam, das zum Zeitpunkt der Verleihung noch nicht einmal in Kraft getreten war. Beide zogen es vor, nicht persönlich zu der Zeremonie zu erscheinen.
Ein Sendemitschnitt fehlt auf unerklärliche Weise im Archiv des NDR: Navina Sundaram berichtet 1983 für Panorama über den Fall von Kemal Altun, einem Studenten, dessen Asylantrag bewilligt wurde, der jedoch gleichzeitig über vierzehn Monate in Auslieferungshaft festgehalten wurde und in die Türkei abgeschoben werden sollte. Das Bundesinnenministerium klagte damals gegen das Bundesamt für Asyl vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Während der Verhandlung öffnete Altun ein Fenster im sechsten Stock des Oberverwaltungsgerichts Berlin und beging Selbstmord. Sundarams Filmteam kommt tags drauf in die unerwartete Lage, der Mutter diese Nachricht in ihrer Privatwohnung zu überbringen. Im Anschluss an ihre Berichterstattung führt Panorama-Chef Peter Gatter ein Studiogespräch mit Navina Sundaram zur Einordnung des Beitrags. Diese Ausgabe von Panorama fehlt heute, entgegen allen Aufbewahrungsvorschriften des Senders. Der Rundfunkrat des NDR rügt die Redaktion später für das Weiterfilmen, während der Mutter die Nachricht über den Tod ihres Sohnes überbracht wird. Navina Sundaram weist in einem der neu eingespielten Kommentare des Archivs darauf hin, das vergleichbar existentielle Situationen in der sogenannten Dritten Welt durchaus gefilmt werden, aber die Verzweiflung einer Mutter in Berlin nicht abgebildet werden dürfe. Sundaram wirft hier ethische Fragen aus einer de-kolonialen Perspektive auf, die kaum oder erst sehr spät in hiesige Mediendebatten Eingang gehalten haben.
First class immigrant
Rauf- und runtergeleiert auf der Emotionsskala habe ich das garstige Lied von Gegensätzen, die vielleicht keine waren, auf jeden Fall für mich keine mehr sind: Insider/Outsider, Binnensicht/Außensicht, Stereosicht, Inklusion/Exklusion, fremd in der Heimat, heimisch in der Fremde. Befremdung, Entfremdung, Verfremdung, wurzellos und frei, verwurzelt und verwurschtelt, homogen/hybrid, authentisch/künstlich, Einfalt/Vielfalt, Singularität/Diversität, Doppelperspektive, Grenzen grenzenlos verwischt. (Sundaram 2008: 27)
Während der Sari für Sundaram zunächst noch Authentizität in Hamburg und beim NDR bedeuten sollte, wollte sie sich alsbald durch die Kleidung nicht weiter exponieren:
Ich wollte ja dazugehören; ich hatte den Spruch satt: ‚Nun wollen wir es aus ‚anderen Augen’ betrachtet sehen.‘ Ich wollte aus dieser geistigen Ghettoisierung heraus. Raus aus der Marginalisierung, rein in den Mainstream. Das, was ich als normal empfand, wurde zum Exotischen erklärt und umgekehrt. (Sundaram 2008: 29)
Die Regisseurin hat viel zur subkutanen Aufklärung in der BRD beigetragen – viel, gemessen daran, was man in einem Menschenleben schaffen kann. Anlässlich des Starts der deutschen Webseite Die Fünfte Wand 2021 erfuhr Navina Sundarams Lebensweg verstärkte Aufmerksamkeit in den deutschen Medien. Wie viel in ihrem Leben doch zusammengekommen war, erstaunte sie selbst, wie sie in ihrem letzten Interview drei Monate vor ihrem Tod im April 2022 im Deutschlandfunk erklärte. Bleiben oder gehen, einpassen oder hervorstechen?, diese Fragen verfolgten die indische Hanseatin Zeit ihres Lebens. „‚Schöner ist es anderswo, denn hier bin ich sowieso‘ – treffender als Wilhelm Busch hätte ich es auch nicht sagen können“, sagt Navina Sundaram (2008: 35).
Ihr digitales Archiv bietet Quellen für eine Vielfalt von kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Forschungsansätzen. Die Biografie der Journalistin reflektiert die vieler Intellektueller, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die BRD kamen und deren Verdienste kaum präsent sind in der öffentlichen Wahrnehmung und Forschung. Stephanie Zloch schreibt 2021 dazu: „Die enge Zusammenführung von Migration und Wissen, gar in der begrifflichen Prägung ‚Migrationswissen‘, war bis vor Kurzem kaum vorstellbar.“ Zwar stellt Zloch fest, dass die Exilforschung ihren Blick bevorzugt auf Intellektuelle und Kunstschaffende richte (2021: 33), scheint mit ‚Intellektuellen‘ aber eher kreative-künstlerische Berufe zu meinen, denn die Leistungen von migrierten Mediziner:innen oder Lebens- und Naturwissenschaftler:innen haben wohl erst mit den Lebenswegen von Uğur Şahin und Özlem Türeci, Gründer:innen der Firma BioNtech, die den Impfstoff Comirnaty gegen die Infektionskrankheit COVID-19 entwickelte, breitere Aufmerksamkeit erfahren. „Unter Migrationen werden räumliche Verlagerungen des Lebensmittelpunktes verstanden, die mit der biografischen Erfahrung von Unterwegs-Sein und der Wahrnehmung von Differenz einhergehen“, so Zloch (2021: 34). Diese Wahrnehmung von Differenz und die Anpassungsleistung von Migranten ist kaum konzeptionell gefasst und diese Lücke kann der Begriff des Migrationswissens füllen.
Navina Sundaram hat sich selbst als „first class immigrant“ bezeichnet. Aber auch der „Immigrant erster Klasse“ bringt erhöhte Aufmerksamkeit bezüglich Ausgrenzung, doppelter Standards, Rassismus und Ungerechtigkeit mit. In einer Reflexion über die Heimat in der Fremde schrieb sie: „Das Leben, die Arbeit in Deutschland, waren für mich zugleich unendlich leicht und unendlich schwer“ (2008: 9) – eine Sentenz, die das Leben des migrierenden Bildungsbürgertums aus Asien, Afrika und Lateinamerika nach Europa auch heute kaum besser beschreiben kann. In einem Interview mit Salman Rushdie von 1984, das ebenfalls im Archiv zu sehen ist, sagt Rushdie über den
Emigranten-Intellektuellen: ‚Dass unsere physische Entfremdung von Indien fast zwangsweise bedeutet, dass es uns nicht gelingen wird, haargenau das zurückzugewinnen, was wir verloren haben; dass wir, kurz gesagt, Fiktionen erschaffen, nicht tatsächliche Städte oder Dörfer, sondern unsichtbare, imaginäre Heimatländer, ein jeder sein ganz persönliches Indien der Phantasie.‘ (zit. n. Sundaram 2008: 30)
Assimilation galt ihr, wie vielen ihrer Generation, als wichtiges Element von Integration. Die Frage einer Rückkehr in das Geburtsland wurde immer wieder auf- und verworfen und die Frage, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, ebenso lange umkreist. In der immer näher rückenden Europäischen Union waren es u.a. auch die stets schwierige Visumsbeschaffung vor jeder Reise ins Ausland und die damit verbundene – anhaltende – Beschränkung der Bewegungs- und Reisefreiheit, die sie und andere letztendlich zu diesem Schritt bewegte. Noch bleibt die Geschichte dieses Milieus von Einwanderern in Deutschland schemenhaft.
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Dies ist eine erweiterte sowie stark überarbeitete Fassung des Beitrags Hegasy, Sonja, „Raus aus der Marginalisierung, rein in den Mainstream.“ Erinnerung an die deutsch-indische Journalistin Navina Sundaram, Qantara.de, 18.04.2023, https://de.qantara.de/ node/49788.
Literaturverzeichnis
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Deutschlandfunk. 2022. „Jede Art von Diversität ist ein Vorteil.“ 16. Januar, https://www.deutschlandfunk.de/jede-art-von-diversitaet-ist-ein-vorteil-9f17952f-0cdd-4cf4‑b04e-52e4b744e-d47b39e3-100.html [letzter Zugriff 23.08.2023].
Hegazy, Ahmed M. Blick zwischen zwei Kulturen. Leverkusen, o.D. Unveröffentlichtes Manuskript.
Pong. „Wer ist pong?“ o. D. https://merlekroeger.de/de/5/who-pong [letzter Zugriff 23.08.2023]
Martin, Staci B.; Dandekar, Deepra. 2022. Global South Scholars in the Western Academy. Harnessing Unique Experiences, Knowledges, and Positionality in the Third Space. New York: Routledge.
Sundaram, Navina. 2005. „An Outsider’s inside view or an Insider’s outside view – India on German TV 1957–2005.“ In: Angelika Fitz, Merle Kröger, Alexandra Schneider, Dorothee Wenner (Hg.) Import Export. Wege des Kulturtransfers zwischen Indien und Deutschland/Österreich. Berlin: Parthas Verlag, S. 19–27.
Sundaram, Navina. 2008. „Grüblerisches zum Thema ‚Heimat in der Fremde‘.“ In: Heimat in der Fremde – Migrationsgeschichten von Menschen aus Indien in Deutschland. Meine Welt (Hg.). Heidelberg: Draupadi Verlag, S. 25–36. Verfügbar unter: http://www.urmila.de/DesisinD/Forschung/HeimatinderFremde.pdf [letzter Zugriff 23.08.2023].
Zloch, Stephanie. 2021. „Migrationswissen Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland aus zeithistorischer Sicht.“ Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 03–04, S. 33–38. Verfügbar unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/wissen-2021/325611/migrationswissen/ [letzter Zugriff 23.08.2023].
Sonja Hegasy, Leibniz-Zentrum Moderner Orient, Berlin
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ISSN 2628–5029