Von Heike Liebau
Veröffentlicht 2019
DOI 10.25360/01–2022-00007
Foto: Verzeichnis der vom Europäischen Zentralkomitee der Indischen Nationalisten bisher veröffentlichten Schriften.
Dieser MIDA Archival Reflexicon Eintrag wurde im Jahr 2022 von Rekha Rajan ins Englische übersetzt und ist nun zusätzlich unter dem Titel “‚Undertakings and Instigations‘: The Berlin Indian Independence Committee in the Files of the Political Archive of the Federal Foreign Office (1914–1920)“ vorhanden.
Inhaltsverzeichnis
Entstehung eines Archivbestandes | Indien in der deutschen Außenpolitik während des Weltkrieges | Das Indische Unabhängigkeitskomitee: Ziele und Netzwerke | „Unternehmungen und Aufwiegelungen in den Gebieten unserer Feinde. Indien“ und weitere relevante Aktensammlungen im PA AA | Endnoten | Sekundärliteratur
Entstehung eines Archivbestandes
Die Unterstützung antikolonialer Kräfte in globalem Maßstab war ein wichtiges Element der deutschen außenpolitischen Strategie während des Ersten Weltkrieges. Sie beinhaltete neben Propaganda auf verschiedenen Ebenen auch finanzielle und militärisch-logistische Hilfe. Diese Politik zielte darauf ab, antikoloniale Stimmungen aufzugreifen, zu stärken und so letztendlich Unruhen und Erhebungen gegen die Kriegsgegner England, Frankreich und Russland zu unterstützen: Kurz gesagt, es ging um die „Aufwiegelung“ und „Revolutionierung“ feindlicher Gebiete.
In der beim Auswärtigen Amt eigens geschaffenen Nachrichtenstelle für den Orient (NfO) entwickelte der Orientalist, Archäologe und Diplomat Max Freiherr von Oppenheim (1860–1946) zunächst eine spezielle Strategie zur „Aufwiegelung“ in muslimischen Gebieten, die aber bald auf weitere Kolonien und Gebiete unter britischer, französischer oder russischer Herrschaft erweitert wurde. Der Historiker Fritz Fischer bezeichnete diese außenpolitische Propagandastrategie später als „Revolutionierungsprogramm“ und zeigte, wie „Revolutionierung“ von der deutschen Seite als Mittel der Kriegführung eingesetzt wurde.
Mit dem Kampfmittel der Revolutionierung verquickte sich das Kriegsziel, das Britische und Russische Reich aufzubrechen. Frankreich und England schienen in ihren farbigen Kolonialvölkern am verwundbarsten zu sein, während Russland in den fremdstämmigen Nationalitäten Ansatzpunkte für die Insurgierung bot (Fischer 1984: 109).
Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin (PA AA), befinden sich in den Beständen zum Ersten Weltkrieg umfangreiche, länder- bzw. regionalspezifisch geordnete Akten mit der Bezeichnung „Unternehmungen und Aufwiegelungen gegen unsere Feinde“. Ausführlich werden hier die Bemühungen der deutschen Seite dokumentiert, revolutionäre und nationalistische Kräfte mit antikolonialer bzw. antiimperialer Stoßrichtung zu unterstützen. Deren Ziele, die sich gegen die britische, französische bzw. russische Kolonialmacht richteten, waren gut mit den militärischen und politischen Zielen der deutschen Außenpolitik vereinbar. Die Strategie war globaler Natur und schloss auch neutrale Länder ein, wie die Dokumente im Archiv des Auswärtigen Amts zeigen. Unter der Bezeichnung: „Unternehmungen und Aufwiegelungen gegen unsere Feinde“ enthält der Bestand Weltkrieg 11 (WK 11) Akten zur Unterstützung antirussischer Bestrebungen in der Ukraine (WK11a); in Polen (WK 11b); „in Rußland, besonders in Finnland“ (WK11c) oder im Kaukasus (WK 11d); zur Unterstützung antikolonialer Bewegungen in Afghanistan und Persien (WK11e); in „Ägypten, Syrien und Arabien“ (WK 11g); Kanada (WK11i); „unter den Buren“ (WK11j); „unter den Iren“ (WK 11k); „in den afrikanischen Besitzungen Frankreichs“ /WK11l); „in Sibirien“ (WK11m); in Rumänien (WK11n); in Bulgarien (WK11o); in Italien (WK11p); in Spanien (WK11 q); „in Abessinen“ (WK 11r); in Portugal (WK 11v) und in Indien (WK 11f ).
Das Auswärtige Amt und die Nachrichtenstelle für den Orient organisierten diese propagandistischen, militärischen, logistischen bzw. finanziellen „Unternehmungen“ nicht allein, sondern gemeinsam mit international agierenden Netzwerken antikolonialer bzw. antiimperialer Ausrichtung. Eine wichtige Rolle spielten entsprechende Gruppierungen in Berlin, die ihrerseits vom Exil aus an einer Schwächung der Kolonialmächte und damit verbunden oft an einer zweckorientierten Zusammenarbeit mit Deutschland interessiert waren. Hierfür beobachteten und observierten das Auswärtige Amt, die NfO und die Abteilung IIIb des Stellvertretenden Generalstabes des Heeres unter Rudolf Nadolny (1873–1953) potentielle Kooperationspartner und nutzten bereits bestehende Organisationsstrukturen und Netzwerke antikolonialer Gruppen in Europa und Nordamerika. Sie unterstützten die Bildung von Unabhängigkeitskomitees, die von deutscher Seite überwacht und kontrolliert wurden, die sich aber ihrerseits der Überwachung und Kontrolle zu entziehen versuchten und eigene politische Strategien verfolgten.
Die im PA AA unter dem Titel „Unternehmungen und Aufwiegelungen gegen unsere Feinde. Indien“ enthaltenen Akten geben Auskunft über die Entstehung, Zusammensetzung und Tätigkeit des im September 1914 gegründeten Indischen Unabhängigkeitskomitees in Berlin (Indian Independence Committee/IIC), seine Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und die mit ihm verbundenen internationalen Netzwerke. Indien ist – verglichen mit den anderen Ländern – das Land mit der umfangreichsten Dokumentensammlung zum Thema „Aufwiegelungen“ im PA AA. Die Akten zu Indien innerhalb des Bestandes WK 11 beginnen mit Band 1 im August 1914 mit der Signatur R 21070; die letzte Akte im Band 48, mit der Signatur R 21118, endet im April 1920. Hinzu kommen 4 Beiakten mit Personalia für denselben Zeitraum (R 21119 bis R 21122).
Indien in der deutschen Außenpolitik während des Weltkrieges
Als größte Kolonie des Britischen Empires spielte Indien eine besondere Rolle in den strategischen Planungen des deutschen Auswärtigen Amts. Ausgangspunkt auf deutscher Seite war die Überlegung, dass Unruhen in Indien das Britische Empire in besonderem Maße schwächen würden. Von verschiedenen Seiten wurden entsprechende Lageeinschätzungen eingeholt. In Analysen, die das Amt mit Kriegsausbruch anforderte, äußerten sich deutsche und indische Experten zur Lage in Indien und bezogen Stellung zu der aus deutscher Sicht entscheidenden Frage, ob dort in nächster Zeit Erhebungen und Aufstände gegen die Engländer zu erwarten seien und welche Kräfte in diesem Zusammenhang zu unterstützen wären. Der deutsche Arabist und Islamwissenschaftler, Josef Horovitz (1874–1931), der zuvor mehrere Jahre in Aligarh am Muhammedan Anglo-Oriental College unterrichtet hatte, arbeitete in einem Memorandum die besondere Rolle der indischen Muslime heraus. Er war der Ansicht:
[…], dass die Mohammedaner in Nord-Indien das männlichere Element darstellen und dass es für die Erregung von erneuten Schwierigkeiten im nördlichen Teile von Indien sehr wesentlich ist, gerade auf diesen Bestandteil der Bevölkerung einzuwirken und zwar im Zusammenhang mit dem panislamischen Gedanken und der Zugehörigkeit zum Khalifat des Osmanischen Sultanats.[1]
Auch die Ansichten von indischen politischen Aktivisten außerhalb des Subkontinents wurden eingeholt. So erklärte zum Beispiel Chempakaraman Pillai (1891–1934), der zuvor das Internationale Komitee Pro India in Zürich gegründet und geleitet hatte und der im September 1914 aus der Schweiz nach Berlin gekommen war, dass ein Aufstand in Indien bevorstünde.[2] Auch Har Dayal (1884–1957), Mitbegründer der Ghadar (deutsch: Revolution) Bewegung in Nordamerika und zu dem Zeitpunkt bereits in Europa, war überzeugt, dass eine Revolution in Indien in Kürze zu erwarten sei.[3] Sowohl Har Dayal als auch Pillai wurden aktive Mitglieder des IIC. Es war das erste von mehreren Unabhängigkeitskomitees ausländischer Gruppierungen im Berliner Exil. Ihm folgten unter anderem Komitees persischer, ägyptischer, georgischer oder irischer Nationalisten (Bihl, 1975). Diese Komitees entstanden mit Unterstützung des Auswärtigen Amts, insbesondere der NfO. In der praktischen Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden entzogen sie sich im Laufe des Krieges jedoch mehr und mehr der deutschen Kontrolle und verfolgten unterschiedliche, nationalistische Ziele.
Während des Ersten Weltkrieges wurde Berlin zu einem bedeutenden Zentrum politischer Aktivitäten indischer Nationalisten und Revolutionäre. Inder, die sich im Sommer 1914 in Deutschland bzw. in Europa aufhielten, verknüpften mit dem Ausbruch des Krieges die Erwartung, von deutscher Seite aktive Unterstützung in ihrem antikolonialen Kampf zu erhalten. Die deutschen Behörden ihrerseits verbanden mit dieser Zusammenarbeit die Hoffnung, antibritische Kräfte zu stärken und eigene Positionen während des Krieges sowie darüber hinaus auszubauen. Dies entsprach der dominierenden deutschen militär- und außenpolitischen Strategie, die Fritz Fischer als “Programm zur Revolutionierung” charakterisierte. Revolution war aus der Sicht Fischers durchaus ein Kriegsziel, das auf eine Unterstützung antikolonialer Kräfte und damit auf eine Schwächung der europäischen Kolonialmächte, d.h. der Kriegsgegner Deutschlands, gerichtet war (Fischer, 1984; Jenkins, 2013). Ein Mittel zur Umsetzung dieser Zielstellung war die “Aufwiegelung” antikolonialer Bevölkerungsgruppen im globalen Maßstab. Sie umfasste die Unterstützung von flämischen, irischen oder persischen Nationalisten ebenso wie die Zusammenarbeit mit georgischen, ägyptischen und indischen antikolonialen politischen Kräften. Die von Max von Oppenheim zunächst entwickelte, in der internationalen akademischen Welt intensiv diskutierte deutsche “Jihad-Strategie” (Loth, 2014; Lüdke, 2015; Zürcher, 2016), war dementsprechend lediglich ein, wenn auch zentraler, Bestandteil weitaus umfassender imperialer außenpolitischer Bestrebungen.
Das Indische Unabhängigkeitskomitee: Ziele und Netzwerke
Ein Blick auf den Gründungsprozess des Indischen Unabhängigkeitskomitees macht deutlich, dass die Organisatoren auf Bestehendes zurück greifen konnten. Bereits existierende translokale politische Netzwerke und Strukturen wurden teilweise nach Berlin verlagert und neu geordnet. Andere Orte, die zuvor eine zentrale Rolle in der politischen Arbeit gespielt hatten, wie London oder Paris waren spätestens mit Beginn des Krieges zu gefährlich für (nicht nur indische) antikoloniale Aktivitäten geworden. Das Berliner Indienkomitee stellte, mit Hilfe der NfO, Kontakte zur 1913 in Kalifornien entstandenen Ghadar Bewegung und zu bereits existierenden europäischen Netzwerken indischer Revolutionäre in London, Bern, Genf und Zürich her, um von dort Mitglieder für das neu gegründete Komitee zu rekrutieren. Chempakaraman Pillai, der in der Schweiz das Pro India Committee gegründet hatte und dort auch die Zeitung Pro India herausgegeben hatte, Virendranath Chattopadhyaya, der 1914 in Deutschland ein Studium begonnen hatte, sowie Har Dayal, der die Ghadar Bewegung mit begründet hatte, und andere vermittelten weitere Kontakte. Mehr als 50 Namen standen im Verlaufe der Zeit im Zusammenhang mit dem IIC, darunter Abhinash Chandra Bhattacharya, Tarachand Roy, Mansur Ahmad, Maulavi Barkatullah, Taraknath Das, Birendranath Dasgupta, Bupendra Nath Dutta oder die vorwiegend in Istanbul agierenden Brüder Abdel Jabbar Kheiri und Abdel Sattar Kheiri (Manjapra, 2014; Fischer-Tiné, 2015; Liebau, 2011a, 2014a; Oesterheld, 2004).
Die wichtigsten Aufgaben des IIC spiegelten, zumindest in der ersten Hälfte des Krieges, sowohl die Interessen der antikolonialen Aktivisten als auch die Erwartungen und Ziele des Auswärtigen Amts wider. Zu den definierten Zielen gehörte es, eine Mission nach Afghanistan zu organisieren, die den Emir um Erlaubnis ersuchen sollte, von afghanischem Territorium aus mit einem bewaffneten indischen Bataillon in Indien einzudringen. Mitglieder des IIC waren in die berühmte Afghanistan Mission involviert, die 1915 von Werner Otto von Hentig (1886–1984) geleitet wurde. Darüber hinaus sollte eine Mission an den Persischen Golf durchgeführt werden, um die indischen Soldaten dort davon zu überzeugen, nicht gegen die türkischen Truppen zu kämpfen. Durch Propaganda unter den indischen Kriegsgefangenen in Mesopotamien sollten Freiwillige für eine Indische Legion gewonnen werden. Unter den südasiatischen Kriegsgefangenen in Deutschland sollte anti-britische Propaganda organisiert werden mit dem Ziel, Gefangene für den Kampf in der türkischen Armee zu gewinnen. Mitglieder des Berliner Unabhängigkeitskomitees waren an der Herstellung der propagandistischen Lagerzeitung “Hindostan” in Hindi und in Urdu beteiligt, die im Halbmondlager in Wünsdorf, einem speziell für Muslime errichteten Lager, verteilt wurde (Oesterheld, 2004; Liebau 2011a/b; 2014a/b; Jenkins/Liebau/Schmid, forthcoming).
Eine entscheidende Rolle für die Stellung des IIC kam der türkischen Seite und der in Istanbul agierenden Gruppe indischer Nationalisten zu. Kurze Zeit nach der Gründung des Komitees in Berlin wurde auch in Istanbul ein entsprechendes Komitee installiert. Mitglieder wechselten teilweise zwischen den Standorten. Auseinandersetzungen um Positionen, Hierarchien und Handlungsstrategien, sowie religiöse Differenzen waren an der Tagesordnung. Unterschiedliche Einschätzungen der politischen Lage in Europa und in Indien und unterschiedliche Allianzen führten zu weiteren Spannungen. Im Hintergrund zogen das Auswärtige Amt und der türkische Geheimdienst Tashkilat‑e Mahsusa ihre Fäden. Im Verlauf des Krieges wurde offensichtlich, dass die Pläne Indien zu revolutionieren und die deutsche Jihad-Propaganda insgesamt nicht den erhofften Erfolg zeigten. Die Bestrebungen des deutschen Imperialismus, antikoloniale Befreiungsbewegungen zu instrumentalisieren, waren gescheitert. Die Komitees erkannten, dass sich die an die deutsche Unterstützung geknüpften Erwartungen nicht erfüllen würden. Das IIC reagierte mit der Suche nach neuen Wirkungsstätten in der Schweiz, den Niederlanden oder Schweden. 1917 eröffnete Virendranath Chattopadhyaya in Stockholm ein neues Büro, das unter der Bezeichnung Indiska Nationalkommittéen agierte und mit dem in Berlin verbliebenen Teil des IIC Auseinandersetzungen darüber führte, wer legitimiert war, die indischen Nationalisten in Europa zu vertreten (Barooah, 2004).[4]
Die Geschichte des Berliner Indischen Unabhängigkeitskomitees vermittelt nicht nur Einblicke in indische antikoloniale Bewegungen außerhalb des südasiatischen Subkontinents und in deutsche außenpolitische Strategien während des Ersten Weltkrieges. Mitglieder des Komitees fanden später ihre Bestimmung in unterschiedlichen weltanschaulichen, religiösen oder politischen Kontexten. Neuere Forschungen, die die Sicht der verschiedenen Unabhängigkeitskomitees stärker in den Mittelpunkt der Analyse rücken, untersuchen die Verbindungen dieser Komitees untereinander jenseits deutscher strategischer Absichten (Jenkins, Liebau, Schmid, forthcoming). Um diese Geschichten systematisch verfolgen zu können, bedarf es der Analyse von weiteren Archivbeständen unterschiedlicher nationaler und politischer Provenienz, in Indien, England, der Türkei, Schweden oder in Russland.
Das Konzept für die deutsche Aufwiegelungsstrategie kann zurückgeführt werden auf ein von Max von Oppenheim ausgearbeitetes Memorandum, die “Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde”(1914) (von Oppenheim, 2018). Bereits kurz nach Kriegsausbruch hatte von Oppenheim das Auswärtige Amt auf die Notwendigkeit intensiver propagandistischer Aktionen, finanzieller und militärischer Unterstützung zur Aufwiegelung antikolonialer Kräfte hingewiesen und dafür die Gründung einer speziell darauf ausgerichteten Institution angeregt, der “Nachrichtenstelle für den Orient”. Was auf den ersten Blick den Anschein eines Übersetzungs- und Informationsbüros erweckte, war eine Institution von weitreichender propagandistischer und nachrichtendienstlicher Bedeutung. Hier wurden Strategien zur Propaganda auf unterschiedlichen Ebenen entwickelt: in den Kolonien und abhängigen Gebieten, unter den Kolonialsoldaten an der Front und in den Gefangenenlagern sowie in neutralen Ländern. In unterschiedlichen Sprachen wurden entsprechende Materialien erarbeitet, gedruckt und verbreitet. Mitarbeiter der NfO waren sowohl Deutsche (neben Diplomaten auch Wissenschaftler, Missionare, Geschäftsleute) als auch Vertreter der verschiedenen kolonialen und abhängigen Regionen. Neben der Nachrichtenstelle für den Orient war die Sektion III b der Politischen Abteilung des Stellvertretenden Generalstabes unter Rudolf Nadolny für Entscheidungen und Strategien im Bereich der Propaganda zuständig. Alle Aktivitäten erfolgten so mit Billigung und unter Kontrolle des Auswärtigen Amts und der Obersten Heeresleitung.
„Unternehmungen und Aufwiegelungen in den Gebieten unserer Feinde. Indien“ und weitere relevante Aktensammlungen im PA AA
Die Akten des insgesamt 48 Bände umfassenden Unterbestandes WK 11f “Unternehmungen und Aufwiegelungen in den Gebieten unserer Feinde. Indien”, gehören zum R‑Bestand des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts, der Dokumente aus der Zeit bis 1945 umfasst. Sie enthalten Unterlagen zum Zeitraum von August 1914 bis April 1920, die die deutschen außenpolitischen Bestrebungen widerspiegeln, antikoloniale Entwicklungen in und mit Bezug zu Indien, der größten britischen Kolonie, zu befördern. Die Dokumente umfassen Korrespondenzen, Berichte und Einschätzungen, Zeitungsausschnitte, Propagandamaterialien sowie Unterlagen zu Verwaltungsvorgängen. In ihrer Gesamtheit geben sie einen Überblick über die Arbeit des IIC und mit dem Komitee verbundenen politischen Aktivisten, deren Haltungen, Absichten und Konflikte – gesehen und gefiltert durch die Kontrolle und Perspektive der deutschen Seite.
Erkundigungen
In den ersten Monaten des Weltkrieges geht es in den Unterlagen zum einen um Erkundigungen zu Indern, die bereit wären, mit der deutschen Seite zusammenzuarbeiten. Das AA holte Informationen über in Deutschland lebende Inder sowie von Diplomaten aus verschiedenen Ländern, zum Beispiel aus der Schweiz, ein. Inder, wie der in Zürich lebende Chempakaraman Pillai oder der in Halle studierende Abhinash Bhattachariya suchten ihrerseits den Kontakt zu deutschen Behörden und loteten Chancen einer Zusammenarbeit aus. Sie gaben weitere Kontaktempfehlungen und Einschätzungen über politische Aktivisten, die für die Mitarbeit in einem Komitee in Frage kommen könnten. Diese Einschätzungen konnten Empfehlungscharakter tragen, oder auch Warnungen beinhalten. Zum anderen gibt es in den ersten Monaten einige Lageberichte zu Indien. Die zentrale Frage lautete, wie schätzt der Autor die politische Situation ein und sieht er Kräfte und Möglichkeiten für anti-britische Erhebungen im Lande. Autoren dieser Lageberichte waren deutsche Geschäftsleute, Missionare oder Wissenschaftler sowie Inder, die die Zusammenarbeit mit der deutschen Seite suchten. Im September 1914 berichtete Max von Oppenheim von der Gründung “seines” Inderkomitees in Berlin.[5]
Korrespondenzen
Des weiteren enthalten die Akten umfangreiche Korrespondenzen zwischen dem Auswärtigen Amt in Berlin und diversen deutschen Vertretungen im Ausland, vor allem in der Türkei, sowie Korrespondenz zwischen dem IIC und dem AA, einzelnen Indern und dem AA. Diese Korrespondenz betraf die organisatorische und personelle Arbeit, in erster Linie im Bereich der Propaganda und bezogen auf die diversen politisch-militärischen Missionen, in die Vertreter des IIC involviert waren. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung dieser Aktivitäten enthalten die Akten zahlreiche Dokumente zu langwierigen Verwaltungs- und Entscheidungsprozessen. Dabei ging es um die Logistik des Vorgehens, auch um finanzielle und personelle Überlegungen, die zwischen dem AA, der Abteilung IIIb des Generalstabes des Heeres sowie verschiedenen Niederlassungen wie Botschaften, Gesandtschaften und Konsulaten ausgetauscht wurden.
Berichte
Eine weitere Kategorie sind Lageberichte, Arbeitsberichte, Berichte über Observierungen einzelner Personen und Memoranden. Die Akten enthalten zum Beispiel mehrere ausführliche Berichte über die Arbeit des indischen Komitees in Istanbul oder über die so genannte Bagdad-Mission und die vergeblichen Bemühungen zur Bildung einer Indischen Legion in Mesopotamien. Ab 1917 kommen Berichte der von Virendranath Chattopadhyaya geleiteten Niederlassung des Komitees in Stockholm hinzu. Diese von Vertretern des Indischen Komitees verfassten Berichte wurden von den zuständigen deutschen Behörden kommentiert und mit Handlungsanweisungen versehen. Im Auftrag des Auswärtigen Amts wurden einzelne Inder von deutscher Seite observiert. So recherchierte Helmuth von Glasenapp zum Beispiel über den in Zürich lebenden Revolutionär und Gelehrten Shyamji Krishnavarma (1857–1930) oder lieferte Berichte über die von Chempakaraman Pillai in deutschen Städten gehaltenen Vorträge. Zu einzelnen Personen, beispielsweise zu Chattopadhyaya, legte das Auswärtige Amt gesonderte Aktenvorgänge an. Diese befinden sich in den bereits erwähnten Beiakten “Personalia” (R 21119‑R 21122).
Weitere Akten
Nicht nur die indienbezogenen Akten in dem Bestand WK 11 “Unternehmungen und Aufwiegelungen” geben Informationen zur Arbeit des Berliner IIC. Bezüge finden sich in den Akten zu anderen Ländern, vor allem zu Persien (WK 11e), Ägypten (WK 11g) oder Irland (WK 11k). Mit Vertretern dieser Unabhängigkeitskomitees arbeitete das IIC in verschiedenen Bereichen zusammen. Zur propagandistischen Arbeit des IIC unter den indischen Kriegsgefangenen in Deutschland finden sich Informationen unter dem Aktenzeichen WK 11s “Unternehmungen und Aufwiegelungen gegen unsere Feinde – Tätigkeit in den Gefangenenlagern Deutschlands”. Diese Akten beginnen mit der Signatur R 21244 im Oktober 1914 und enden mit R 21262 im Dezember 1919. Die spezielle Tätigkeit einzelner Mitglieder des IIC für die Nachrichtenstelle für den Orient, darunter die Mitarbeit bei der Herausgabe der Lagerzeitung Hindostan in Hindi und Urdu, spiegeln die Akten zur NfO wider. Unter dem Aktenzeichen Deutschland 126 adh.1 beginnen die 27 Bände mit der Signatur R 1510 im Januar 1915 und enden mit R 1536 im Dezember 1919.
Endnoten
[1] | PA AA, R 21080, von Oppenheim in einem Begleitbrief zu einem Memorandum von Josef Horovitz über die Lage der Muslime in Indien, 11. März 1915. |
[2] | PA AA, R 21070, Telegramm des Kaiserlichen Gesandten in der Schweiz, Freiherr von Romberg, an das Auswärtige Amt, 8. September 1914. |
[3] | PA AA, R 21071, Telegramm von Freiherr von Wangenheim an das Auswärtige Amt, Konstantinopel, 13. September 1914. |
[4] | PA AA, R 21111, Bericht des Indiske Nationalkommittéen in Stockholm an das Indian Committee Berlin-Charlottenburg, 17. Januar 1918. |
[5] | PA AA, R 21071, Mitteilung Max von Oppenheim an Otto Günther von Wesendonk, 11. September 1914. |
Sekundärliteratur
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Heike Liebau, Leibniz-Zentrum Moderner Orient, Berlin
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Editors: Anandita Bajpai, Heike Liebau
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ISSN 2628–5029